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IIWO SIND WIR? KULTURELLE KRÄFTE, DIE UNS PRÄGEN UND HERAUSFORDERN 1.DIAGNOSTISCHE BEOBACHTUNGEN
ОглавлениеDie Kirchen des Westens und insbesondere die Evangelische Kirche in Deutschland nehmen in der Gegenwart mehrere Krisen wahr. Nicht zuletzt die seit den 1980er Jahren diskutierten und auch umgesetzten Reformprozesse unterstellen sich eine kircheninterne Organisationskrise. Diese ist das Resultat von Säkularisierungsprozessen, die zu einer Mitgliederkrise führen und diese wiederum zu einer Finanzkrise. Kräftezehrende Umstrukturierungen, Gemeindefusionen und die Infragestellung von bewährten Initiativen ist die Folge. Hin und wieder wird der von vielen als belastend und entmutigend empfundene Abbau und Rückbau durch neue Projekte und gelungene Initiativen gegenbalanciert. In diese Stimmungslage hinein kam die vom Freiburger »Forschungszentrum Generationenverträge« angefertigte Studie »Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland«. Das Ergebnis: Bis 2060 wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland halbieren. Rund 21 Prozent des Rückgangs sind der Bevölkerungsentwicklung geschuldet, rund 28 Prozent gehen auf die Taufquote, das Austrittsverhalten und die Wiedereintrittsbereitschaft zurück. Ob die Botschaft, dass es weniger an der Demographie liegt als an Taufe und Austritten, eine gute oder eine schlechte ist, muss sich noch erweisen. Deutlich ist nur: Die Vorstellung eines fröhlichen Gesundschrumpfens, ein Weg zu »klein, aber fein«, zur »Elitenbildung« (Thies Gundlach) ist eine Illusion – solange nicht auch theologische Weichen anders gestellt werden. Auch dann, wenn »Austritte in der Peripherie der Parochie« (in Wahrheit distanziert Engagierter) geschehen, bleibt es eine Frage des theologischen Rahmens, wie die Kirche mit der sogenannten distanzierten Kirchenmitgliedschaft umgeht.
Bedrückend ist zweifellos auch das Bild, das sich in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und den Staaten des sogenannten Ostblocks zeigt: Während sich die orthodoxen Kirchen und auch die katholische Kirche von dem staatlich verordneten Atheismus und den damit zusammenhängenden Säkularisierungen erholt haben, gilt dies speziell für den Protestantismus nicht. Dies sollte m. E. doch zu denken geben. Die Geburtsregion des lutherischen Protestantismus bleibt eine der religionslosesten Gegenden der Welt.
Das Krisenbewusstsein existiert nicht mehr nur im Expertenwissen, es ist schon lange in den Synoden und den Gemeinden angekommen. Auffallend ist dabei, dass die Krisenursachen vornehmlich außerhalb der Kirche gesucht werden: Säkularisierung, Traditionsabbruch etc. Erst der Vertrauensverlust im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs hat intensiver nach internen Krisenursachen fragen lassen.
In all dem gilt es indirekt ein Problem anzugehen, das von vielen sehr laut beschwiegen wird, man könnte auch sagen, das eine der größeren Leichen im Keller der Kirche ist: Der christliche Glaube, das Christentum, wurde zur Stammesreligion. Die Kirche reproduziert sich über Biologie, über Abstammungsbeziehungen. Warum?
Alle Prognosen zur Mitgliederentwicklung der Kirchen in Deutschland legen die demographische Entwicklung zugrunde. Was dadurch mitgesagt wird: Glaube wird nur noch »biologisch« im Raum der Familie durch Sozialisation weitergegeben. Und selbst dort wird es z.B. durch den regelmäßigen Ruf nach einem überkonfessionellen oder gar interreligiösen Religionsunterricht in Frage gestellt. Biologisch werden die Protestanten weniger. Schweigend sagen viele Christen: »Das ist eben so!« Wer hier laut mehr als ein Fragezeichen anbringt, wird schnell in eine radikal-evangelikale Ecke und ruckzuck unter Fundamentalismusverdacht gestellt. Aber es ist doch ganz einfach: Wenn der Protestantismus für die Selbstreproduktion faktisch vom Heiligen Geist auf Sex (Kinder bzw. Geburtenrate) umstellt, so funktioniert dies nach der Erfindung der Pille nicht mehr. Das funktioniert nur bei vier Kindern oder mehr. Wenn dann christliche Eltern nicht mehr wissen, warum sie ihr Kind taufen lassen sollten, dann müsste es eigentlich heißen: »Houston, we have a problem!« Wem aber die Umstellung auf eine Stammesreligion gleichgültig ist, weil sowieso alle religiösen Angebote oder alle Begründungen von Menschenrechten irgendwie gleich gültig sind, der wird auch von den Menschen außerhalb der Kirche nur Gleichgültigkeit ernten. Wer mit seiner Umgebung identisch sein möchte, ist nicht mehr identifizierbar. Die Antwort auf die Gleich-Gültigkeit ist Gleichgültigkeit.
In den folgenden Überlegungen wird nun nicht ein lautstarkes Plädoyer für Mission vorgelegt. Aber es wird gegen einen sich einschleichenden Fatalismus und gegen eine heroische Schicksalsgläubigkeit in Sachen Kirche und moderne Gesellschaft argumentiert. Und: Es gilt, die bestehenden Initiativen zu der nicht leichten Arbeit am Fatalismus zu stärken und zu ermutigen. Ob die Bewältigung der inneren theologischen Krise in absehbarer Zeit zu einem Abklingen der Mitgliederkrise oder gar zu einem »Wachsen gegen den Trend« führt, entzieht sich jeglicher Prognostik. Die folgenden Ausführungen haben aber schon ihr Ziel erreicht, wenn die die Krise verstärkenden Fehlorientierungen gesehen und korrigiert werden. Dann wird die Kirche die kommenden Mitglieder-, Organisations- und Finanzkrisen konzentrierter, ehrlicher, freudiger und kreativer verarbeiten.