Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 10

Gelb

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Der 21. April 2002, Jospins Niederlage und vor allem seine Flucht im Stil Ludwigs XVI. gleich am Abend der Wahlschlappe, »seht zu, wie ihr klarkommt, ich bin dann mal weg«, markierte wohl den Beginn von Pierres Wut. Sicher, ein Jahr zuvor war der 11. September gewesen, der heilige Zorn der Gotteskrieger, aber auf der anderen Seite des großen Teichs, drüben bei den Amis, und schließlich hatte ein Jahr danach Außenminister Villepin bei seiner Rede vor dem Sicherheitsrat der UNO, gebeugt wie ein Opi, mit silbernem Haar und eingefallenem Gesicht, im Namen Frankreichs Nein zum Irakkrieg gesagt, »es wurden keine Massenvernichtungswaffen gefunden, leck uns am Arsch, Bush«, deshalb hatten alle geglaubt, diese Sache mit den Islamisten, die mit ihren Flugzeugen pünktlich zu den Fernsehnachrichten unsere Lebensweise zum Einsturz bringen wollten, wäre nicht unser Krieg. Von der Seite hätten wir nichts zu befürchten. Nein. Der wahre Krieg, das wussten wir, tobte bei uns in der Provinz, in den Dörfern, direkt vor der Haustür, in der Papierfabrik, wo Pierre sich seit zehn Jahren als Maschinenführer um die halbautomatischen Produktionsanlagen kümmerte, launenhafte, dreißig Meter lange Ungetüme, zweihunderttausend Dollar das Stück, »so viel wie ein Haus hier in der Gegend, und zwar ein zweistöckiges, mit Kamin, Garten, Garage und elektrischem Gartentor, Mann«. Zehn Jahre Arbeit im Höllentempo, um Termine ein- und Kosten niedrigzuhalten, weil die Chinesen auf dem Vormarsch waren und nach der »gelben Gefahr« auch die Inder voranpreschten, die hohen Tiere aus dem Einkauf bezirzten, die plötzlich alle liebend gern mit der Frau Gemahlin nach Bombay reisten, ein hübsches Foto vor dem Taj Mahal oder dem Goldenen Tempel schossen und ein murgh makhani mit grünen Kaschmir-Chilis genossen, während sie Zahlungsfristen, Rabatte, Garantien aushandelten. Die Aussicht auf Jospin an der Macht, den großen Verfechter der Fünfunddreißigstundenwoche mit seinem Beschäftigungsprogramm für junge Leute, ließ Pierre deshalb daran glauben, dass er nicht allein wäre auf dem Minenfeld. Nicht allein, wenn alles in die Luft flog – denn die Geschichte strebt nach Invasion, nach Annexion. Nicht allein, weil die Gewerkschaften immer nur dann da waren, wenn es gut lief, nicht, wenn es den Bach runterging – was war aus den sechzehntausend Kolleginnen und Kollegen in den Fabriken von Usinor Thionville geworden? Den zweitausendsiebenhundert bei Giat Industries? Den viertausendfünfhundert bei Moulinex? Und plötzlich zerschlug sich alles. Der große Jacques blieb im Élysée-Palast. Raffarin sprach vom »Frankreich da unten«. So wie Balzac hundertfünfundsechzig Jahre früher in den Verlorenen Illusionen. Die Franzosen da unten blieben da unten. Die Franzosen da oben schauten nie nach da unten. Dort war es schmutzig. Man könnte sich ja die Schuhe versauen. Der Riss wurde tiefer. Bildete riesige Metastasen. Und als sich an jenem Abend die wunderschöne Blondine an Pierres Männerkörper presste und ihn küsste, ein brennender, salziger, verzweifelter Kuss, unterdrückte er seine Wut und ließ sich erobern. Mit sechsunddreißig wollte er endlich glauben, die Liebe wäre das Einzige auf der Welt, das man ihm niemals wegnehmen könnte. Eine Zuflucht. Heiliger Boden. Im Morgengrauen sprachen sie schon die Sprache des anderen. Ein Esperanto der Liebe. Ein Wirbelsturm. Louise war zehn Jahre jünger als er und Krankenpflegerin. Auf der Straße drehten sich die Männer nach ihr um. Sie hatte bisher nur eine ernsthafte Beziehung gehabt. Mit einem Antoine. Dem Sohn eines Versicherungsvertreters. Vier Jahre hatte sie gedauert. Eines Tages war er verschwunden. Einfach so. Ein Chanson von Serge Reggiani. Aber nie zurückgekehrt. Hier hörte die Welt wirklich am Ende der Straße auf. Siebzig Prozent der Straßen im Dorf waren Sackgassen. Also spielte Pierre zum ersten Mal nicht den Angeber. »Ich hatte schon ein paar Freundinnen«, erzählte er seinerseits, »aber noch nie was Ernstes. Ein Fabrikarbeiter ist nicht gerade ein Traumprinz. Der hat schwielige Hände. Die zerkratzen die Haut.« »Also, ich mag deine Kratzer, sie sind wie Liebesbriefe.« Drei Jahre später kam Geoffroy. Noch ein Jahr später wurde die Papierfabrik geschlossen. Sechzig Mann wurden zum Teufel gejagt. Ein Scheck für jeden. Gerade genug für einen Flachbildfernseher, sechs Tage und fünf Nächte All-inclusive-Urlaub in der Türkei und diesen scheißteuren TÜV. Na, wird’s bald, verzieht euch, raus. Raus mit Jeannot. Julie. Tony. Jean-Mi. Der Clique. Allen anderen. Julie machte es sich zur Aufgabe, die Männer zu trösten. Jeannot belegte, als er nach seiner unschönen Saufphase wieder einen klaren Kopf hatte, einen Vorbereitungskurs zur Ausbildung als Gefängniswärter. Jean-Mi fand einen Job bei der Agrargenossenschaft. Tony auf dem Bau. Und Pierre bekam eine halbe Stelle als Nachtwächter bei der Warenhauskette Auchan. Geoffroy sprach noch immer nicht. Er rannte, konnte aber nicht laufen. Er verstand nicht, was von ihm erwartet wurde. Und in Pierres Bauch fing es an zu rumoren. An jenem 17. November 2018, dem ersten Samstag der Gelbwestenproteste, »dem Tag, an dem das Volk Nein sagte«, kamen keine knusprigen Pommes aus Bintje auf den Tisch. Pierre schenkte sich noch ein Glas Chardonnay ein. Stürzte es auf ex hinunter, wie diese traurigen Trinker, die es einfach nur hinter sich bringen wollen. Dann knurrte er: »Ich geh noch mal raus«, als würde er meinen: »Ihr könnt mich mal!« Die Tür knallte nicht. Es war still. Geoffroy hielt sich nicht die Ohren zu wie sonst in solchen Situationen. Er lächelte. Sagte: »Die Stille ist mein Zuhause.« Und der Kummer drückte seine Mutter nieder.

Die wärmste aller Farben

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