Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 5

Gelb

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Es war noch dunkel, als sie aufbrachen. Das Fernlicht des Wagens durchschnitt die Finsternis, tauchte die Wände der Häuser am Dorfrand in flüchtiges Gelb, dann wurde alles wieder schwarz. Sie waren zu sechst, saßen dicht gedrängt, fast gequetscht im gemächlich dahinrollenden Renault Kangoo. Sie trugen Mützen wie Soldatenhelme, dicke Handschuhe und Mäntel – die Nacht war kalt, der Morgen noch weit. Sie hatten die müden Gesichter schwerer Jungs, selbst die beiden Frauen. Sie unterhielten sich nicht, sondern lächelten nur, vereint in einem Leib, ein von Wut und Angst gelähmtes Körpergeflecht. Dasselbe Fleisch, bereit zum Kampf, gewappnet gegen Versehrungen, denn wer nicht blutet, der lebt nicht. Es war ihr erstes Mal. Aus dem Radio tönte Le Sud von Nino Ferrer. »Der hat sich umgebracht«, sagte einer. Ein Van-Gogh-Gemälde, die drückende Hitze eines 13. August, verkrüppelte Eichen, zwei Ahornbäume, eine Heckenrose, ein abgeerntetes Weizenfeld über Quercy Blanc, zirpende Zikaden und plötzlich ein Riss. Ein Schuss. Dann Stille. Bleierne Stille. Die Kugel durchdringt das Herz, der Körper des Sängers sackt in sich zusammen. Niemand im Auto sang den Refrain mit, der versprach, dass der Sommer über eine Million Jahre andauern sollte. Ihre Mienen waren auf einmal ernst. Der Fahrer schaltete das Radio aus. Zehn Minuten später hielt der Kangoo im Kreisverkehr, mitten auf der leeren Landstraße. Die sechs Insassen stiegen aus. Ihre Glieder waren schwer. Im Licht der Taschenlampen holten sie die Feuerschale aus dem Kofferraum. Das Netz Brennholz. Die Thermoskannen mit Kaffee. Die Proviantbeutel. Die Cognacflasche und die langen Messer versteckten sie. »Ich hätte doch mein Stecheisen mitbringen sollen«, sagte einer bedauernd. »Wir werden ja nicht zuerst schießen«, erwiderte ein anderer. Und sie lachten trostlos. Sie wussten, dass sie Jäger waren, die man früher oder später selbst davonjagen würde. So lange mussten sie die Stellung halten. Nachdem sie die Blockade errichtet hatten, tranken sie einen Schluck. Suchten nach Worten, um einander anzuheizen. »Die sind selbst schuld, wenn sie uns ständig für dumm verkaufen«, wetterte Tony, ein dünnhäutiger, untersetzter Typ. Italienischer Herkunft, wie er gern betonte: »In meinen Adern fließt Garibaldi-Blut!« Das Feuer erhellte die Nacht und die ausgezehrten Gesichter. Der Zorn verdüsterte die Blicke. Ließ die Haut erblassen. Die Finger zittern. Als das erste Auto in der Ferne auftauchte, rückten sie zusammen. Natürlich hatten sie ein bisschen Angst. Aber Angst bringt auch Mut hervor. Aus Mut entsteht Hoffnung. Und Hoffnung lässt Herzen höherschlagen, zu den Waffen greifen. »Wir haben das Recht auf ein gerechtes Leben«, hatte Pierre verkündet, und alle hatten ihm beigepflichtet. Sie hatten sogar ein Spruchband mit diesen Worten bepinselt, die sie klangvoll fanden, ohne zu ahnen, dass in der Forderung Pierres gesamter Kummer mitschwang, sein Scheitern als Vater, sein Versagen als Ehemann, seine Wut. Nicht alle Herzen schlagen dieselben Schlachten. »Wir verlangen doch nicht die Welt. Nur ein kleines Stück davon«, hatte er hinzugefügt. Und die anderen hatten gelacht. Die Körper schlüpften in die gelben Warnwesten. Nahmen ihre Position auf der Fahrbahn ein. Das Auto war nur noch dreihundert Meter entfernt. Eine der beiden Frauen legte sich auf den eisigen Asphalt. Irgendwer rief: »Ey, Julie, übertreib’s nicht!«, und Julie antwortete mit dem Stolz einer Löwin: »Pah, sollen sie mich ruhig überfahren, dann wäre hier die Hölle los.« Zweihundert Meter. Es war die erste Bedrohung. Die Feuertaufe. Die Lichthupe glich einer Beleidigung. Doch kurz darauf erkannten sie den dunklen Lieferwagen von Élias, dem Bäcker, und die aufblendenden Scheinwerfer verwandelten sich in Freudenschreie. »Hab ich mir doch gedacht, dass ihr hier seid, Freunde, das ist der beste Ort, um alles lahmzulegen. Bitte sehr, meine erste Ofenladung. Baguettes, Milchbrötchen, Brot – Vollkorn, Roggen, Mais, schön dunkel, so wie du’s magst«, sagte er zu Julie, die wieder aufstand. »Und das Allerbeste: hundert Buttercroissants, noch warm.« In ein paar Stunden, weit weg von hier, in Paris, würden die Mauern von Marie-Antoinettes Kuchen künden. Wutschäumende Träumer würden versuchen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und sich den Élysée-Palast unter die Nägel zu reißen. Pflastersteine würden fliegen wie tote Vögel. Der Geruch des Aufstands würde in der Luft liegen. Der Duft von Maiglöckchen im November. »Ich kann leider nicht bleiben«, fügte Élias verlegen hinzu, »aber wenn ihr irgendwas braucht, dann ruft einfach an.« Angsthasen verkaufen ihre Feigheit gern als Großzügigkeit. Als er wieder aufbrach, wurde er beklatscht. Die butterigen Croissants zergingen auf der Zunge. Sie schmeckten nach Kindheit. Nach früher. Als die Welt noch im Nachbardorf endete. Bei der Agrargenossenschaft. Oder in der Stadt. Als es das Postamt noch gab. Als der Versicherungsvertreter noch Hausbesuche machte. Genau wie der Arzt. Als der Bus noch zweimal am Tag fuhr und der Fahrer, wenn man an den Feldern entlanglief und es nach Regen aussah, auch außerhalb der Haltestellen hielt. Als die Welt noch so groß war wie ein Garten. Allmählich brach der Tag an. Kupferrote Adern überzogen den Himmel. Die sechs gelben Westen glichen tanzenden Flammen. Leuchtenden Glühwürmchen. In den Kampf zu ziehen hatte immer auch etwas Fröhliches. An jenem dritten Samstag im November ging die Sonne um acht Uhr fünf auf. Gegen acht Uhr dreißig kamen die ersten Autos, die in Richtung Stadt wollten. Ein, zwei auch in Richtung der Strände im Norden, übers Wochenende. Zu klammen Häusern, die nach altem Rauch, feuchtem Salz und modrigen Fotos rochen. Sie stoppten sie. Boten den Fahrern und Insassen Croissants an. Manche stiegen aus, wärmten sich an der Feuerschale. Man diskutierte. Regte sich auf. Aber alle waren sich einig, dass die sechseinhalb Cent Steuererhöhung auf Diesel glatter Diebstahl waren. Das Leugnen unserer Realität. Noch eine Lüge. Wir müssen kämpfen. »Machen wir ja, Kumpel«, sagte Jeannot, eine blasse Bohnenstange, »machen wir, aber auf die sanfte Art. Man muss nicht immer gleich den Holzhammer schwingen.« »Kann sein«, antwortete der Kumpel, »aber das mit den achtzig km/h ist auch totaler Schwachsinn. Man kommt ja schon mit neunzig kaum an den Lastwagen vorbei. Was woll’n die denn, diese Idioten? Diese Lackaffen?« Großstadtfuzzis. Weicheier. Es wurde scharf geschossen. Alle kriegten ihr Fett weg. Scheißpolitiker. Möchtegernmonarchen. »Alles für die, nix für uns. Sollen wir vielleicht verhungern?« »Dann schließt uns doch an die Métrolinie an. Lebt mal unser Leben, nur ’ne Woche lang.« »Die wollen bloß die Blitzer zum Glühen bringen!«, schrie einer. »Na, dann machen wir Altmetall aus ihren Blitzern«, schlug Pierre vor, und alle stimmten zu, aber keiner rührte sich vom Fleck, weil sie genau wussten, dass die erste Gewalttat die schwierigste war. Unumkehrbar. Der Anfang vom Ende. Der erste Schlag weckt die Raubtiere. Das menschliche Fleisch wird zum Schlachtfeld. Deshalb bewegte sich niemand. Autofahrer stellten ihre Wagen am begrünten Straßenrand ab und zogen ihre Warnwesten an, um sich zu den anderen zu gesellen, wie Glühwürmchen, die nachts leuchten, um Geschlechtspartner zu finden und sich fortzupflanzen. So strahlten die Abgehängten, die kleinen Leute, die armen Schlucker, die Faulpelze und die Nichtse an jenem ersten Morgen, um einander zu erkennen und sich tausendfach zu vermehren. Zehntausendfach, hunderttausendfach. In ein paar Stunden würden die in Empörung vereinten Körper einen bösartigen gelben Fleck auf der Lunge der Republik erscheinen lassen. Und nichts wäre mehr wie zuvor. Eine Polizeistreife hielt hundert Meter entfernt. Niemand stieg aus. Sie beobachteten nur. Sie kannten die Theorie vom Funken im Pulverfass. Was sie im Moment sahen, war harmlos. Ein frühmorgendliches Picknick in einem Kreisverkehr. Ein Volksfest. Inzwischen hatten sich mehr als fünfzig Wagen angestaut, und von ganz hinten ertönten hartnäckige Hupkonzerte, wie Schimpftiraden, erhoben sich wie Stinkefinger, doch sobald eine Handvoll Glühwürmchen in diese Richtung ausschwärmte, wurde es wieder still. Die Fahrer kramten hektisch ihre Warnwesten hervor. Breiteten sie schnell auf dem Armaturenbrett aus. Schaut her, Leute, ich bin auf eurer Seite. Die Steuererhöhung ist scheiße. Tut mir nichts. Manche drehten direkt wieder um. Ergriffen die Flucht. Krieg bedeutet, sich für eine Seite zu entscheiden, aufzustehen, und nur die wenigsten waren wirklich standfest. Als Croissants und Brot alle waren, ließen sie die Autos durch. Eins nach dem anderen. Suchten ein letztes Mal das Gespräch. Man versprach einander Kämpfe und Revolten. Köpfe auf Mistgabeln. Pierres Slogan auf dem Spruchband glänzte tintenschwarz in der kalten Sonne. »Wir haben das Recht auf ein gerechtes Leben.« Schließlich war ein Cayenne an der Reihe. Ein Auto mit dem Namen einer grausamen Strafkolonie, in der zwischen 1854 und 1867 von siebzehntausend Sträflingen zehntausend den Tod fanden. Zehntausend elende Tode. Schmutzig. Ein Auto für 4,7 Jahre Mindestlohn, und auch nur, wenn man seine gesamte Kohle in die Karre steckte, aber man musste ja noch wohnen, essen, Klamotten kaufen, den Kindern das Leben versüßen. »Warte«, sagte Pierre zu Julie, »der gehört mir.« Und er ging auf den Porsche zu. Eine Warnweste lag auf dem braunen Leder des luxuriösen Armaturenbretts. Der Fahrer war gutaussehend. Helle Augen. Freundliches Gesicht. Um die fünfzig. Auf der Rückbank saß ein Junge im Alter von Pierres Sohn. Er war völlig auf sein Tablet fixiert, bekam nichts mit von der Unzufriedenheit, die sich ringsum entlud. Von der schwefeligen Luft. Pierre bedeutete dem Mann, das Fenster runterzulassen. Sein Krieg hatte soeben begonnen.

Die wärmste aller Farben

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