Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 16
Weiß
ОглавлениеLouise hatte schnell gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn sie dem Jungen die Lieder vorsang, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, schien ihre Stimme ihn gar nicht zu erreichen, und er schaute auch ihre Hände nicht an, wenn sie die zehn kleinen Zappelfinger spielten. Er wirkte weit weg. Als spräche er eine andere Sprache. Als käme er von einem anderen Asteroiden. Die Augenärztin und der Psychomotoriker hatten nichts Ungewöhnliches festgestellt. Während der Untersuchung hatte der Junge die ganze Zeit gebrüllt, aber das schrieben beide den vielen, für so ein Würmchen ziemlich überwältigenden Apparaten zu, haha, und Louise blieb allein mit ihrem menschenleeren Sohn. Während der Schwangerschaft war Pierre ein überaus fürsorglicher Partner gewesen – einmal hatte er nachts um elf noch frische Johannisbeeren und Erdbeeren aufgetrieben, merci, Jean-Mi von der Agrargenossenschaft –, ein verheißungsvoller werdender Papa. Doch als sich herauskristallisierte, dass Geoffroy nicht wie alle anderen war oder sich zumindest nicht im gleichen Tempo entwickelte laut den Tabellen des Untersuchungshefts, die nur die Norm belohnten – Ausnahmen passen nun mal nicht ins Raster –, war Pierres Interesse an der Vaterrolle erloschen. »Das kommt noch«, hatte er immer gesagt. »Später. Wenn er groß ist. Dann begleite ich ihn zum Fußball. Zum Judo. Bringe ihm das Autofahren bei.« Und Louise hatte geahnt, dass sie mit dem Vater für ihren Sohn auch ihren Mann verlor. Er begann Überstunden in der Fabrik zu machen, erst spät nach Hause zurückzukehren, mit Hopfenatem und dem neckischen Duft nach roten Früchten auf der Haut – Louise erkannte die säuerlichen Noten des Parfums Mademoiselle Rochas, das die Clique Julie zum Geburtstag geschenkt hatte, und nach und nach destillierte sich in ihrem Blut eine fiebrige Melancholie heraus. Geoffroy wurde größer. Und sprach noch immer nicht. »Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte ein Kinderarzt aus dem Thomazeau sie beruhigt, »sogar Einstein hat erst mit vier sprechen gelernt.« Geoffroy zeigte keinerlei Gefühlsregung. Er verstand alles, aber empfand nichts. Er hopste nicht vor Lebensfreude herum oder ließ sein Lachen in die Lüfte steigen. Er war ein Stein. Ein Feuer, das kaum brannte. Nur ein reflexives Bewusstsein. Es war schwierig, ihn anzuziehen. Kompliziert, ihn zu füttern, bis Louise begriff, dass er nach seiner eigenen Logik aß. Erstens durften die Lebensmittel einander nie berühren. Zweitens mussten sie nach Farben sortiert werden. Von hell nach dunkel. Also erst das Püree, dann der Schinken, dann die Erbsen. Und als sie einmal absichtlich weißen Reis und Seeteufel gekocht hatte, konnte Geoffroy sich partout nicht entscheiden, womit er anfangen sollte. Sie suchte diverse Ärzte auf. Ernährungsberater. Fachärztinnen. Psychologinnen. Einen Heilpraktiker. Niemand wusste wirklich weiter. Es hieß nur, er brauche einfach Zeit. Es hieß, klinisch sei alles in Ordnung. Es hieß: »Haben Sie Geduld, gute Frau.« Louise fühlte sich verurteilt. Ungenügend als Mutter. Sie ertrank in ihrem Kummer. Eine Kollegin aus dem Krankenhaus sorgte sich. Ein Arzt verordnete ihr ein Antidepressivum. Die Kollegin einen Geliebten, und sie lachten im blauen Stationsstützpunkt darüber, auch wenn Louise eigentlich gar nicht danach zumute war. Hab Geduld, Louise. Dann eines Tages die Offenbarung. Geoffroy fing an zu sprechen. Sechs Monate früher als Einstein. Oh, er sagte nicht »Maman«. Nicht »Ich hab dich lieb« oder »Drückst du mich?« Nein, er sagte »klein«. Er sagte »groß«. Und sortierte das Besteck der Länge nach. Das Spielzeug und die Bücher. Er sagte: klein, mittel, groß, sehr groß. Er hatte eine hübsche, musikalische Stimme, und dieser neue Klang überwältigte Louise. An jenem Tag hatte sie sich ganz dicht neben ihn gesetzt, und auch wenn er sie nicht angesehen, ihr wahrscheinlich nicht einmal zugehört hatte, hatte sie ihm zugeflüstert: »Ich weiß, dass du Tausende Worte in dir trägst, Geoffroy, und sie bis jetzt gehütet hast wie Schätze, wie Murmeln tief unten in der Jackentasche, jedes deiner Worte ist ein Geschenk, und wenn die anderen sie nicht immer verstehen, ist das nicht schlimm, weil ich dich verstehe.«