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Zitronengelb

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Der Auchan-Filialleiter überließ die abgelaufenen Lebensmittel immer seinen Angestellten, deshalb brachte Pierre am Abend vor seiner Fahrt in die Hauptstadt eine glutenfreie Zitronentarte für zwölf Personen mit nach Hause. Geoffroy war in seinem Zimmer. Er las den großen Umweltroman der amerikanischen Autorin Dana Philp, Das Reh in der Stadt. Louise war gerade von der Arbeit gekommen, erschöpft, bedrückt. Am Nachmittag war eine junge Frau gestorben. Brustkrebs, HER2-positiv. Weder Antikörpertherapie noch Chemo hatten angeschlagen, Pertuzumab in Kombination mit Trastuzumab und Docetaxel. Sie war seit drei Tagen im fünften Stock des Thomazeau gewesen, und es glich schon einem Wunder, dass sie überhaupt drei Tage durchgehalten hatte. Zweiunddreißig Jahre alt. Zwei Töchter, vier und sechs. Sie hatten geschrien: »Maman!« Sie hatten geschrien: »Bleib bei uns!« Sie hatten versprochen: »Wir sind auch brav. Wir decken den Tisch.« Sie hatten gefleht: »Geh nicht weg, Maman, geh nicht weg!« Maman hatte gelächelt. Ihnen gesagt, dass sie sie liebte. Sich darauf verließ, dass sie immer schön aufräumen, brav sein, den Tisch decken würden, »weil ihr ab jetzt große Mädchen sein und eurem Papa helfen müsst«, und sie hatte die Hand ihres weinenden Mannes gedrückt. Sich bei ihnen allen bedankt. Noch einmal gelächelt. Hinzugefügt: »Das hier ist kein Lebwohl, sondern nur, wie jeden Abend, ein ›Bis morgen!‹« Dann war sie fort. Ihr letzten beiden Worte schienen noch durchs Zimmer zu wirbeln, bis auch sie verstummten. Als Louise die Infusionspumpe ausschaltete, hatte die jüngere Tochter einen Nervenzusammenbruch. Sie fing an, auf den leblosen Körper ihrer Mutter einzuschlagen, ihr das Gesicht zu zerkratzen, die Augenlider aufzuschieben, »du bist gemein! Gemein, gemein, gemein!« Der zusammengesunkene Vater sprang auf und stürzte vor, Louise schloss das Kind fest in die Arme, bekam selbst ein paar Schläge ab, versuchte es mit uralten Worten, den Worten einer lebendigen Mutter. Ihre Kollegin Brigitte eilte herbei, sie spritzten der Kleinen ein Beruhigungsmittel, legten sie in eins der Betten im Bereitschaftszimmer, und plötzlich war es im fünften Stock des Krankenhauses vollkommen still. Louise und Brigitte entfernten die Infusions- und Perfusorenschläuche. Sie wuschen die junge Mutter. Wechselten die Bettlaken. Zogen ihr ein sauberes Hemd an. Zwei Stunden später – die gesetzlich vorgeschriebene Wartezeit – brachten sie sie nach unten, mit unbedecktem Gesicht. Hier wurden keine Leichen befördert, sondern Menschen. Ein friedliches Gesicht hatte immer etwas Schönes. Etwas Würdevolles. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen. Zu Hause hatte Louise Nudeln mit Zucchini, Mandeln und Datteln gekocht, denn ihre beiden Männer zu ernähren war ein Mittel, das ihr half, nach dem Chaos zivilisiert zu bleiben, aufrecht nach dem Krieg. Sich erneut für das Leben zu entscheiden. Seit sie auf der Palliativstation arbeitete, hatte sie schon etliche Pflegekräfte am Kummer kaputtgehen sehen, weil es ihnen nicht gelang, den richtigen Abstand zu wahren – den Höflichkeitsabstand, wie Brigitte es nannte. Sie luden sich die Last der Toten auf, trugen sie mit nach Hause. Weinten, zerbrachen. Geoffroy aß erst die Nudeln, dann die Mandeln, dann die Zucchini, dann die Datteln. Pierre sprach über seine Reise am nächsten Morgen. »Tony kommt mich um sechs Uhr früh abholen. Der Zug geht um sieben Uhr elf, Lille – Gare du Nord, Ankunft acht Uhr vierzehn, danach zu den Champs-Élysées.« Seine Augen leuchteten. Seine Hände tanzten. »Wir werden die Welt verändern, Junge«, sagte er lachend. »Guck!« Er stand auf, griff nach seiner Warnweste, hielt sie ausgebreitet hoch. Auf den Rücken hatte er mit schwarzem Filzstift in Großbuchstaben seinen Slogan geschrieben, WIR HABEN DAS RECHT AUF EIN GERECHTES LEBEN. »Das ist doch nicht zu viel verlangt, ein gerechtes Leben. Ich will, dass du eine gute Zukunft hast, Geoffroy, und deine Maman auch. Du auch, Louise. Ich will, dass wir keine Angst mehr haben müssen. Dass wir alle den Kopf wieder hoch tragen können. Dafür kämpfen wir. Und wir werden siegen. Hier, zur Feier des Tages habe ich sogar eine Zitronentarte mitgebracht.« Geoffroy blickte auf. »Du hast vergessen, dass ich Gelb nicht mag, Papa.«

Die wärmste aller Farben

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