Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 13

Farbverlauf

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Derselbe Abend. Louise wartete nicht auf ihren Mann, sie ging allein zu Bett. Vermutlich war er nach der Demo noch was trinken gegangen. Mit seinen ehemaligen Kollegen aus der Fabrik Luftschlösser bauen. Den alten Groll wieder aufwärmen. Oder sich in Julies Armen ausheulen. Fittichgleiche Arme. Flatterhaftes Herz. Eine Trösterin. Louise kannte diese Sorte Frau. Aber war sie auf gewisse Art und Weise nicht selbst eine? Tröstete sie im Thomazeau nicht auch die Scheidenden? Die Bleibenden? Alle Leidenden? Im fünften Stock sagte man, Schmerz sei körperlich, Leid seelisch. Für den Körper gab es die Medizin, die chemischen Gleichungen, die Linderungen. Für die Seele die Zärtlichkeit, die Musik der Worte, das Mitgefühl. Der Körper lässt zuerst los. Die Seele klammert sich fest. Jedes Mal. Wegen einer Kindheitserinnerung. Eines geliebten Antlitzes. Eines erstickten Lachens. Wegen des Geruchs nach staubigem Regen. Louise half denen, die gingen. Und wenn sich ein Lächeln auf die knitterigen Gesichter legte, wusste sie, dass sie die richtigen Worte gefunden, die Sterbenden zu dieser nicht fassbaren Freude geführt hatte, die endlich den Griff löste. Ihre Hand zuckte bei der Erinnerung an all die Hände, die in ihr erschlafft waren. Sie streichelte das Laken, wo eigentlich Pierre liegen müsste. Sie berührte die Kälte. Spürte die Leere. Menschen zu lieben, die nicht bleiben, ist erschöpfend. Auch am Sonntag kam Pierre nicht nach Hause, aber Louise beschloss, sich keine Sorgen zu machen. Als sie Montagfrüh aufstand, war Geoffroy schon in der Küche. Er hatte die Sachen auf dem Frühstückstisch nach seiner Logik geordnet. Erst das Maisgelb der Cornflakes, dann das Siena des Zwiebacks, das Orange des Saftes, das Kastanienbraun des Kakaos und schließlich das Mahagoni des Kaffees. Ein perfekter Farbverlauf. Louise lächelte. Manche Dinge änderten sich nie. Geoffroy hob die Hand zur Begrüßung, weil sie sich morgens nie berührten, und fragte, wo sein Vater sei. »Er hat das Wochenende mit seinen Freunden verbracht«, antwortete sie. Geoffroy wiederholte seine Frage. Diesmal gab sie zu, dass sie es nicht wusste. Ihr Sohn zuckte die Schultern. Schaute auf seine Armbanduhr. Sagte: »Es ist sieben Uhr vier. Djamila ist gerade im Badezimmer. Sie kämmt sich die Haare. Danach schminkt sie sich leicht. In neun Minuten sitzt sie in der Küche und trinkt einen Tee mit Milch und Süßstoff.« Plötzlich: »Hat Papa uns nicht mehr lieb?« Ein weiterer Stich in Louise’ Herz. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, und Geoffroy wandte sich wieder seiner Farbpalette zu, reihte den weißen Zucker ganz am Anfang ein. Um Punkt halb acht ging er zur Schule. Er hatte eine festgelegte Route, deren Parameter er genau kannte, die exakte Anzahl der benötigten Schritte bei seiner aktuellen Schrittlänge von zweiundsechzig Zentimetern von der Spitze des einen bis zur Ferse des anderen Fußes, einer Schrittlänge, die sich jedoch bald wieder ändern und Neuberechnungen erfordern würde. Außerdem kannte er Anzahl und Art der Bäume, Marke, Modell und Farbe jedes Autos vor jedem Haus, die Namen der Bewohner, er wusste, wer einen Hund, eine Katze, einen Finken hatte und wie die Hunde, Katzen und der Fink hießen. Und er wusste auf die Sekunde genau, wann Djamila an der Ecke der Rue du Lavoir erscheinen würde, und in eben dieser Sekunde würde er aufseufzen, und sie würde lächeln, und alles auf der Erde würde sich perfekt ineinanderfügen. Sein Kopf war vollgestopft mit Dingen, die ihm nur dazu dienten, sich der Beständigkeit der Welt zu vergewissern. Die Zahlen brachten Gleichgewicht, Stabilität, genau wie die Farben. Was ihn dagegen in Panik versetzte, war die Poesie der Menschen, also ihre Unberechenbarkeit, denn eben das bedeutete Poesie für ihn, Launen, Kapriolen, Streiche. Keinen Schimmer zu haben, ob ein Fremder auf der Straße ihn nach dem Weg fragen, anlächeln, ignorieren oder ihm ein Wildschweinjagdmesser in Bauch und Hals rammen würde, war zutiefst beängstigend. Wenn die Schule in Sicht kam, wurden sie langsamer. Die Schule war für ihn schwarz. Die schlimmste Farbe. Dann nahm Djamila seine Hand und drückte sie fest. Zerquetschte sie fast. Dieser Schmerz hatte die Macht, all seine Ängste in sich zu bündeln, damit Djamilas Hand sie herausreißen konnte.

Die wärmste aller Farben

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