Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 11
Waldgrün
ОглавлениеSpäter, wenn man versuchen wird, die Tragödie zu verstehen, die Mathematik der Dinge zu rekonstruieren, die ganze Poesie nachzuvollziehen, begegnet man zwangsläufig Hagop Haytayan. Hagops Vater, dessen Vorname Katchayr »Mensch« und »Mut« bedeutet, wurde 1922 geboren, mitten auf dem Meer, auf einem der ersten Flüchtlingsboote von Haifa im baldigen britischen Mandatsgebiet Palästina nach Marseille. Dort wohnte seine Familie ein paar Jahre lang. Hilfsarbeiten in den Seifenfabriken, Ölmühlen, Fischgeschäften. Wenn man einen Genozid überlebt hat, ist es einem egal, wie die Hände riechen. 1926 lassen sich die Haytayans in Paris nieder, so wie die Hälfte der armenischen Diaspora, ungefähr sechzigtausend Menschen. Man findet sie in den Elendsquartieren und Dachstübchen von Belleville, Kremlin-Bicêtre, Gentilly. Sie schließen sich nach Orten zusammen. Schuften bei Decauville. In den Strickereien in Clamart. Oder in der Seidenfabrik des Industriellen Beylerian. Zehn Jahre später speit der kleine Künstler mit dem Bürstenpinselbärtchen auf der anderen Seite des Rheins hasserfüllte Worte aus, seltsam ähnlich denen, die die Haytayans schon einmal gehört haben. 1915 in Konstantinopel. Und im Jahr darauf in Aleppo. Worte, die Hungersnöte auslösen. Massaker. Die Geschichte wiederholt sich ein ums andere Mal, die Menschen haben viel zu wenig Phantasie. Also machen sich die Haytayans erneut auf den Weg. Ziehen in den Norden. In die Kälte. Weit weg von den großen Städten, den hohen Bevölkerungsdichten. In ein Dorf ohne Fabrik. Ohne Seehafen. Ohne Goldreserven. Ohne alles. »Nein«, meint der Großvater und stellt seinen Koffer ab, »hier werfen sie ganz sicher keine Bomben. Und auch kein Giftgas. Menk hasank, Kinder, wir sind angekommen.« Der Krieg geht vorüber. Der üppige Garten der Haytayans verpflegt das gesamte Dorf, das sie im Gegenzug mit Geflügel und Niederwild nährt. Man freundet sich an. Man tanzt. Man gibt ihnen ein Stück Land. Dann einen Wald. Der Tausende, Zehntausende Grüntöne birgt. Lärche. Smaragd. Moos. Pistazie. Und sogar Veronesergrün. In dem man Eichen, Buchen und Pappeln findet. Schleierlinge und Giftlorcheln. Und Quellen. Hagop kommt 1950 zur Welt. Als Kind zimmert er sich dort eine Hütte, die er immer weiter ausbaut, bis daraus ein richtiges Häuschen wird, mit Regenwassertank und Solarenergie, auch wenn das in einem schattigen Wald vielleicht nicht die klügste Idee ist. Aber es funktioniert. Manchmal wagen sich Hirschkühe mit ihren Kälbern am Morgen ganz nah heran. 2018 sieht Hagop, inzwischen knapp siebzig, oft zwei Kinder in seinem Wald. »Das Mädchen ist ein bisschen größer und älter als der Junge«, erzählt er. »Sie gestikuliert viel beim Sprechen, und ihr Lachen ist klar wie Quellwasser. Der Junge lehrt sie die Namen der Bäume, zeigt ihr, wie man den Kot von Hirschen, Hasen und Rehen an der Form erkennt, den von Füchsen und Mardern am Geruch, und sie hört ihrem kleinen Gelehrten zu und lacht ihr Quellwasserlachen. Ab und zu sagen die beiden gar nichts«, berichtet Hagop. »Dann nimmt sie behutsam seine Hand, wenn die nicht davonflattert wie ein Distelfink. Sie laufen und laufen, ohne über die Wurzeln zu stolpern. Sie erahnen den Matsch unter dem Laub. Weichen den Wasserlöchern aus. Hin und wieder setzen sie sich. Lauschen der Stille. Manchmal gibt das junge Mädchen – sie ist wunderschön«, erklärt Hagop, »ihre Haut hat die Farbe von Karamell, ihre Augen sind von einem außergewöhnlichen Grün – dem Jungen einen ihrer Kopfhörer, und es wirkt, als würden sie eins. Der Junge lehnt die Wange an ihre Schulter, sie ist, wie gesagt, größer als er, und sie legt den Arm um ihn. Ich weiß, die beiden sind Kinder«, flüstert Hagop, »vielleicht dreizehn und fünfzehn Jahre alt, aber zwischen ihnen ist etwas, das wir alle einmal besessen und verloren haben. Vergessen. Etwas Unermessliches, das vernichtet werden wird.«