Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 15
Pappelgrün
Оглавление»Sie kommen oft«, erzählt Hagop Haytayan weiter. »Seit über einem Jahr.« Er findet sie schön zusammen. Wie zwei Waldtiere. Sonnige Gemüter. Freundlich. »Sie streifen umher. Beschnuppern sich manchmal, als würden sie an Jasmin oder Minze riechen. Hin und wieder scheint der Junge vor ihr her zu tanzen, um sie herum, macht kleine Zickzackschritte, wie einige Insekten bei der Balz, an anderen Tagen tanzt sie für ihn, und ihre Arme und Beine verwandeln sich in Lianen. Umgarnungen. Sie sind hier in dieser herrlichen, verlorenen Welt, ›die du niemals verlassen solltest, mein Sohn‹, das hat meine Mutter immer gesagt, die den Vornamen Antarame, ›unverwelklich‹, trug, ein schönes Adjektiv, oder? Verheißungsvoll. ›Niemals verlassen‹, hat sie gesagt, ›vor allem nicht, wenn du erwachsen wirst, denn erwachsen zu werden, vergiss das nicht, heißt, alles zu verlieren, sich selbst zu verlieren.‹ Dann plötzlich, wie zwei flammende Rehkitze, die einen Fuchs wittern, springen die beiden auf und huschen davon. Einmal habe ich sie rittlings auf dem dicken Ast einer Korkeiche entdeckt, ein Stück weiter nördlich. Sie saß hinter ihm, die vergoldeten Hände auf seinen Schultern, und ich musste an ein Liebespaar auf einer Vespa denken, eine gewundene Bergstraße, ein Bild von Italien, das in einer Baumkrone hängt. Er hat ihr Sterne gezeigt, die mitten am Tag niemand sehen konnte, und sie hat gelacht und gestaunt. Später sind sie ganz dicht an mir vorbeigelaufen, ohne mich zu bemerken. Sie hat ihn gefragt, was es ihm bringe, all diese Sachen über Lux und Lumen, Steradianten und Magnitude null zu wissen, ›ich weiß nur, dass ich mich mit dir gut fühle, und das reicht mir‹. Der Junge blieb stehen. Er sah aus, als würde er angestrengt überlegen, denn mit dreizehn ist es nicht so einfach, auf eine Liebeserklärung zu antworten. Er ließ die Worte in sich wirken. Lauschte auf ein Echo in seiner eigenen Logik. Schließlich lächelte er. ›Ich hab’s. Das stammt aus einem Film. Der Mann sagt: Ich fühl mich auch gut, sehr gut mit dir, aber dass du dich gut fühlst mit mir, ist mir wurscht, ich will, dass du auch mit mir zusammen bist. Meinst du das damit, Djamila?‹ ›Genau das, Geoffroy‹, antwortete das Mädchen und errötete. ›Ich will, dass du mit mir zusammen bist.‹ Ein andermal, es war an einem Sonntag, habe ich sie in der Nähe der Quellen gesehen. Sie lagen nackt unter den Pappeln, auf den Blättern, die, wie Sie vielleicht wissen, wie umgedrehte Herzen geformt sind, und ich dachte bei mir, dass diesen Ort bestimmt das Mädchen ausgesucht hat. Wegen der Form der Blätter. Ich bin nicht geblieben, aber ihre im Licht des späten Frühlingsnachmittags verquirlten Körper erinnerten mich an den Honigkuchen meiner Mutter Antarame, ein Hochzeitsgebäck, denn diese beiden Kinder, da bin ich mir sicher, hatten sich an jenem Tag vermählt.«