Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 18

Schwarz

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Wie jeder weiß, bildet sich eine soziale Gruppe durch Abgrenzung von einer oder mehreren Personen. So auch in der Schule. Freundschaften werden auf Kosten eines Dicken, einer Hässlichen, eines Schielenden, einer Ausländerin geformt. Jetzt stellt euch einen Jungen vor, der anders ist als alle. Er ist elf Jahre alt. Er erträgt es nicht, berührt zu werden. Er hält sich immer abseits. Manchmal verbringt er die Pause auf der Toilette oder versteckt hinter dem breiten Stamm der Platane. Er könnte euch sagen, dass es sich um eine Gemeine Platane handelt, auch Ahornblättrige Platane genannt, eine Hybride aus der Familie der Platanaceae mit sehr geringer Fruchtbarkeit, die im siebzehnten Jahrhundert in Europa entstanden ist. Dass sie bis zu tausend Jahre alt werden kann. Und fünfzig Meter hoch. Dass ihre Früchte als Achänen bezeichnet werden. Aber er spricht mit niemandem, weil er nicht weiß, wer nett und wer fies ist. Alles, was neu ist, macht ihm Angst. Alles, was sich nicht wiederholt, macht ihm Angst. Alles, was überraschend kommt, macht ihm Angst. Deshalb hasst er Weihnachten und seinen Geburtstag. Nicht zu ahnen, was ihn unter der Geschenkverpackung erwartet, löst echte Panik in ihm aus. Wenn er die Straße entlangläuft, wirkt er, als würde er seine Schritte zählen, die Autos benennen, die Farben sortieren. Er ist elf und weiß Sachen, die nicht einmal eure Eltern wissen. Die nicht einmal die Lehrer wissen. Letztere verbessert er hin und wieder auch. Zum Beispiel, was das unterirdische Wasserreservoir der Nordsahara betrifft. »Es sind nicht dreitausend Kubikkilometer, Madame, sondern dreißigtausend. Und nicht die Kälte hat die Pferde bei Napoleons Russlandfeldzug getötet, sondern das Glatteis. Die Tiere sind ausgerutscht, hingefallen und nicht mehr hochgekommen.« Er kann nicht lügen. Also nur zu, fragt ihn, ob eure neuen Sneaker nicht heiß sind, er wird sie berühren und antworten, sie hätten Raumtemperatur, und ihr werdet ausrufen: »Nein, heiß, du Schwachkopf, so was wie super, stylish, cool, kapiert?«, woraufhin er vermutlich erwidern wird, sie seien ungestalt, und schon das Wort wird euch auf die Palme bringen. Es kann passieren, dass er euch verletzt, ohne es zu merken. Sein Gedächtnis ist beeindruckend. In fünfundzwanzig Jahren wird er sich immer noch an eure ungestalten Schuhe erinnern. Aber wenn ihr weint oder schallend lacht, bedeutet es ihm nichts. Er kann euch nicht lesen. Er kann euch nicht spüren. Wenn es zu laut ist, schlägt er sich gegen den Kopf, um die Lärmfetzen zu zerquetschen. Wie Parasiten. Kakerlaken. »Insekten mit über zwanzigtausend Genen«, würde er euch erklären, »also beinahe so viele wie in unserem eigenen Genom, darunter mehrere Familien, dank derer die Tiere kaum totzukriegen sind, sie produzieren Enzyme, die jede toxische Substanz, auch Pestizide, zersetzen können.« Er benutzt niemals Schimpfworte. Er befolgt Regeln aufs Genaueste. Gesetze. Kommt er an einem Spiegel vorbei, sieht er sich oft nicht. Er sieht den Baum, nie den Wald. Er nimmt die Welt auf seine ganz eigene Weise wahr. Aber eine Sache, die hasst ihr ganz besonders an ihm: dass er euch nicht wiedererkennt. Das ist Geoffroy. Das ist der komische Kauz. Das Opfer der Schule. Der, den man beleidigt und verarscht. Den man verprügelt, und weil er keinen Schmerz zu fühlen scheint, drischt man nur noch fester auf ihn ein. Den man die Treppe hinunterschubst und Mongo nennt. Spasti. Freak. Das ist der Sündenbock. Dessen Ermordung die anderen zusammenschweißt. Das ist der Einsame. Der Aussätzige. Das Schmürz. Das mit dem Mobbing geht schon seit Jahren so, aber Louise wollte nicht, dass Geoffroy auf eine Förderschule kommt. »Er ist anders«, sagte sie, »nicht zurückgeblieben. Er hat der Welt etwas zu bieten, vielleicht mehr als viele andere.« Sie hat dafür gekämpft. Schließlich sogar Dr. Philippe eingeschaltet, den Leiter des Thomazeau. Der haute bei der Direktorin auf den Tisch. Sagte, dass Unterschiede ein kostbares Gut seien. Genau wie die Luft. Das Wasser. Dass auch Ludwig van Beethoven, »jawohl, Madame«, Bobby Fischer und Isaac Newton anders gewesen seien. »Und Anthony Hopkins. Wussten Sie das nicht?« Geoffroy durfte bleiben, aber die Gemeinheiten hörten nie auf. Die Einsamkeit war ein grausamer Feind. Deshalb suchte Geoffroy sich eine Zeit lang einen imaginären Freund, und weil er Farben mochte, lud er natürlich niemand Geringeren als Picasso in seinen Kopf ein. Aber er verstand nicht, warum der Andalusier einmal gesagt hatte: »Wenn ich kein Blau habe, dann nehme ich eben Rot«, schließlich könne das Meer nicht rot sein, argumentierte er, und die Wände gegenüber den Betten im Thomazeau genauso wenig, die Farbe würde die Patienten und Patientinnen doch verrückt machen. Sie ist das Blut. Sie ist das Feuer. Sie ist das Töten. Und Pablo lachte laut und lang, meinte, er solle sich nicht den Kopf zerbrechen, »glaub mir, Geoffroy, immerhin habe ich Gesichter gemalt, bei denen die Nase an der Stelle eines Ohres sitzt, der Mund an der Stelle eines Auges, und die Menschen haben trotzdem Menschen gesehen. Keine Monster.« Geoffroy runzelte die Stirn, die Diskussion war vertrackt, und er ahnte, dass da gerade noch etwas anderes in sein Leben trat, etwas, das er nicht begriff, weil es so exzentrisch, das er nicht ertrug, weil es so irrational war. Die Poesie. Sprache versus Mathematik. Zwei völlig gegensätzliche Welten. Und vor einem Jahr dann, als er allein dagesessen hatte, während die anderen Jungen Fußball spielten und sich bei den Namen berühmter Spieler riefen, um vor den Mädchen die Macker zu markieren, war etwas Außergewöhnliches passiert. Eine Achtklässlerin hatte sich neben ihn gesetzt. Anmutig hatte sie ihre Ohrmuschel von den langen schwarzen Haaren befreit und einen winzigen weißen Kopfhörer herausgeholt, den sie behutsam vor Geoffroys Gehörgang gehalten hatte. Er war wie versteinert gewesen. Weiß wie der Kopfhörer. Die Stimme einer jungen Frau, tiefe Tonlage, elegante Kratzigkeit, wahrscheinlich Raucherin, drang in seinen Kopf, zwischen die Kakerlaken, die Anzahl der Kubikkilometer Wasser unter der Sahara, das mörderische Glatteis beim Russlandfeldzug und die dröhnenden Beleidigungen. Sie sang: »Imagine all the people / Living life in peace«. Sie sang: »You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one«. Die Melodie des Klaviers war angenehm. Sanft. Der Rhythmus des Schlagzeugs und die Riffs der E-Gitarre brachten Geoffroys Herz zum Tanzen. Einen Moment lang hatte er keine Angst mehr. Die Last der Gemeinheiten fiel von ihm ab. Er fühlte sich, als könne er fliegen, ja, und lachen. Schließlich schaute er das Mädchen neben sich an. Und sah nur eins: Ihre Augen hatten die schönste Farbe der Welt. Veronesergrün. Es klingelte. Sie kehrten in ihre Klassenzimmer zurück. Aber Geoffroys Leben hatte sich für immer verändert.

Die wärmste aller Farben

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