Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 12
Orange
ОглавлениеDiesmal hatten sie Reifen und Holzbalken dabei, um den Kreisverkehr abzusperren. Sie waren schon zu fünfzehnt und seit fünf Uhr früh dabei, die Barrikade zu errichten. Die freudige Erregung der vergangenen Woche war einer düstereren Stimmung gewichen. »Und dieser Scheißkerl Philippe will die CO2-Steuer nicht zurücknehmen«, schimpfte Tony. »Der wird sich noch umschauen. Dem zeigen wir, was Volkssouveränität bedeutet.« »Alle kaltmachen!«, trumpfte Jean-Mi auf, der Muskelmann der Gruppe, dessen Wortschatz durch den permanenten Graskonsum nicht gerade wuchs. Ihre Autos hatten sie quer zur Straße geparkt und fünfzig Meter davor als Warnhinweis Feuerschalen aufgestellt, vor allem für die besoffenen Idioten, die mit drei Bräuten an Bord aus der Disco kamen, sich für Rennfahrer hielten und am Ende meistens von einer Platane zerquetscht oder von einer Leitplanke enthauptet wurden. Und jedes Mal waren die Familien völlig gerädert. Litten Höllenqualen. Élias brachte wieder seine erste Ofenladung Brot und Croissants vorbei. Huguenin, der Sohn des Metzgers, nicht die hellste Kerze auf der Torte, lieferte gegen sieben Uhr Rillettes, Hackbraten und ein paar ordentliche Würste ab und fragte verschlafen, ob sie hier einen Brunch veranstalteten. Julie stöpselte ihren iPod an einen dicken Lautsprecher an und ließ Lieder erschallen, die Lust machten zu singen, zu tanzen, die Welt zu verändern und sich zu lieben, »schließlich verlangen wir doch nur ein bisschen Liebe«, sagte sie kokett. Rund dreißig andere schlossen sich ihnen an, bevor es hell wurde. Einige davon waren schon auf hundertachtzig. Sie warteten darauf, was in Paris passieren würde. Wie heftig die Schlägereien wären. Wie laut die Wutschreie. Und wie brutal die Bullen. Allen schwante, dass sie nicht bloß Reden schwingen würden. Es juckte sie schon seit letzter Woche in den Schlagstöcken. Schließlich sagte Pierre, genug sei genug, er würde sich den Blitzer am Ortsausgang von Doigny-la-Forêt vorknöpfen, das Teil sei reine Abzocke, und ein Kerl von der Größe eines Baums drängte sich auf, »ich bin dabei, ich hab Allrad«. Sie fuhren zu fünft, eine Räuberbande. Sie schlangen das Seil um den Kasten – »zwölf Millimeter dick«, betonte der Baum-Typ ein wenig angeberisch, »sechs Litzen mit je neunzehn Drähten, achttausendachthundertvierzig Kilo Bruchlast, damit kann man einen Kranwagen ziehen«, »haha, vielleicht sollten wir dann lieber ’nen Geldautomaten klauen«, schlug der Schlaumeier Jeannot vor, aber das fand niemand witzig. Auf dem Schlachtfeld spielte man nicht den Clown. Krieg war eine ernste Sache. Die 2,3 Tonnen des Geländewagens setzten sich in Bewegung, rupften den Blitzer so leicht heraus wie einen faulen Zahn. Sie verstauten ihn im Kofferraum und nahmen ihn mit wie eine Trophäe. Pierre war stolz. Ein Jäger, den Fuß auf seiner Beute. Die Sonne ging auf. Der Blitzer wurde wie eine Standarte in die Reifenbarrikade gesteckt. Ein Witzbold sprayte den Namen des jungen Präsidenten darauf, und sofort verwandelte sich der Kasten für alle in dessen Gesicht. Ein aufgespießter Kopf. »Ah, das geht ran, das geht ran, das geht ran, / Die Aristokraten, hängt sie dran!« Die ersten Autos kamen, wurden gestoppt. Kurz fühlte es sich an wie eine Feier, mit den Croissants und den Würsten, Julies Musik und den glitzernden Träumen. Die Klauen der Kälte konnten ihnen nichts anhaben, und die Wölkchen, die ihren Lippen entwichen, malten Länder, Tiere, Pareidolien voll Poesie. Die Nachrichten meldeten mehr als eineinhalbtausend Demonstrationen in ganz Frankreich. Berichteten von den Kameradinnen und Kameraden in Paris, die sich nicht auf dem Champ-de-Mars einkesseln lassen wollten und bereits auf die Champs-Élysées strömten. Offenbar waren in der Hauptstadt über sechstausend Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. »Sechstausend Pulverfässer, das ist gar nicht gut«, brummte eine Gelbweste mit langem weißem Bart, wie ein Druide aus Die goldene Sichel. Später wurde der Ton rauer am Kreisverkehr, als ein Fahrer unbedingt durchwollte. Seine Frau sei gestern gestorben. Hirntumor. Das nackte Grauen. »Ich muss unsere Tochter vom Bahnhof abholen. Bitte. Lassen Sie mich durch.« Doch manchmal versteinert Wut das Herz. Pierre ließ sich nicht erweichen. »Und in fünf Minuten kommt die Tante da mit ihrem kranken Hund an. Und der hier muss dringend zum Impftermin. Sorry, aber wir lassen niemanden durch. Es herrscht Krieg, ist Ihnen das überhaupt klar?« Der Mann trocknete seine Tränen und blieb ruhig, wahrscheinlich, weil die Trauer keinen Radau macht, dann sagte er zu Pierre: »Sie müssen ein sehr unglücklicher Mensch sein«, und als er wendete, halfen ihm die anderen, dirigierten Autos aus dem Weg, als wäre er irgendein VIP. Schließlich kam Julie zu Pierre, meinte: »Das war wirklich gemein von dir. Du wirst langsam zu jemandem, den ich nicht mag.« Pierre brauste auf: »Scheiße, was geht ihr mir denn plötzlich alle auf den Sack?« Er schnappte sich eine Flasche White Spirit und kippte sie über die Reifen, um sie anzuzünden. Dichter, schwarzer, stinkender Rauch stieg in den Himmel. Eine Ebenholzsäule als Mahnmal der Gewalt überall auf der Welt. Hier und dort erwuchsen Freundschaften. Enttäuschungen verfestigten sich. Die Feuerwehr kam, aber die Gelbwesten ließen niemanden an ihr Feuer, also sicherte die Mannschaft nur die Umgebung, damit die Flammen nicht auf die Felder übergriffen. »Löscht lieber euren Durst!«, riefen ein paar, und die Feuerwehrleute gesellten sich zu ihnen, stießen mit ihnen an, und Gelb und Rot vermischten sich zum Orange der Flammen. Einem fröhlichen Orange. Geoffroy hätte Kandinsky zitiert, für den diese Farbe das Gefühl von Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit und Triumph bedeutete. Und war es etwa kein Triumph, wenn in einem gesperrten Kreisverkehr Männer und Frauen, die sich überhaupt nicht kannten, für einen Tag, ja, für eine Stunde ihre kindliche Naivität wiederentdeckten, das Einzige auf der Welt, das die Welt verändern konnte? In Paris artete die Situation in einen Aufstand aus. Die Polizei setzte Rauchgranaten ein, Tränengas. Wasserwerfer schleuderten leichte Körper durch die Luft wie Unrat nach dem Wochenmarkt. In der Nähe des Triumphbogens drohten die Leute zu ersticken, drängten sich wie Mäuse in der Falle. Die Kendokas rückten erbarmungslos vor. Fahrräder und Roller brannten. Mülltonnen. Bistrostühle. Ein paar Demonstrierende hatten Steine aus dem Pflaster gerissen, sie als Wurfgeschosse benutzt und nur noch mehr Granaten geerntet. Ein Bumerangeffekt. Als der Druide die Bilder auf den Handydisplays sah, sagte er: »Wartet nur, nächstes Mal holen sie die Panzerwagen raus.« Aus der Fröhlichkeit im Kreisverkehr wurde Furor. Irgendwer wollte ein Auto anzünden. »Ja, aber welches?«, fragte Julie, »wir stehen hier doch alle auf derselben Seite.« Der feierfreudige Innenminister Castaner sprach von Aufrührern – Aufruhr war früher ein Verbrechen gegen die Staatsgewalt gewesen –, aber aus der Deckung seines Twitter-Accounts heraus. »Komm doch her, Mann, dann zeigen wir dir, was ein Aufruhr ist!«, rief der Baum über die Spötteleien hinweg, als das Gesicht des Ministers erschien. »Wenn du dich traust, haha«, ergänzte Tony. »Guckt ihn euch an, die alte Saufnase!«, schrie der Nächste. »Zurück mit dir an den Pokertisch, Gangsterboss!«, höhnte ein Vierter. Und das Gelächter kehrte zurück. Schließlich wurde es Abend. Nach und nach verließen die Gelbwesten den Kreisverkehr. Die Feuerwehr entfernte die glühende Barrikade, die Polizei gab die Straße wieder frei, und weil damit alles so wurde wie vorher, fühlte es sich an wie eine Niederlage, als hätte nichts von diesem Tag je existiert, weder die Schreie noch die Lieder, weder die warmen Croissants noch irgendein Traum. Pierre und Julie gingen als Letzte, wie Eltern, die nach der Feier das Licht ausmachten und die Tür schlossen. Er fuhr nicht nach Hause, sondern mit zu ihr. Der Sex war traurig. Ihre Körper rochen nach verbranntem Gummi. Ihre Küsse waren spröde. Er kam. Sie täuschte es nur vor. Danach drehte er sich zur Wand, um seine Tränen zu verbergen. Scham schmeckt salzig.