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Blau

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Die Wand gegenüber dem Bett war in jedem Zimmer blau. Hellblau, fast pastellig. Ein Himmel, an dem man sich stieß. Die Illusion unendlicher Weite. Die Farbe frischen Wassers, die beruhigend wirkte und den Blutdruck senkte. Die angeblich sogar den Hunger dämpfte. Und hier im fünften Stock handelte es sich um die Henkersmahlzeit. Die, die kamen, hatten noch Hunger, aber keinen Appetit mehr. Die Münder kauten nicht länger. Die Finger drehten Däumchen. Manchmal flehten die Augen. Die Kranken gingen, aber wollten noch bleiben. Deshalb entlasteten sie die Körper, nährten die Seelen. Vor dem fünften hatte Louise im ersten Stock gearbeitet. Auf der Neonatologie. Für diese Station hatte sie sich nach der Geburt ihres Sohnes entschieden, weil die Entbindung sehr schwierig gewesen war. Beinahe gewaltsam. Seither ertrug der Junge keine Berührungen. Der Kontakt mit Wasser, das Gewicht von Wasser bereiteten ihm Qualen, genau wie bestimmte Kleidungsstücke, bestimmte Stoffe auf der Haut, und auf der Neonatologie, so hatte Louise geglaubt, könnte sie das Versäumte nachholen. Berühren. Streicheln. Fühlen. Endlich Mutterhände haben, uralte Bewegungen ausführen, ungeahnte Zärtlichkeit schenken – selbst wenn sie einem winzigen Wesen eine Magensonde legte. Viele Jahre lang hatte sie freudig dieses unbeständige Gleichgewicht zwischen Versprechen und Ungewissheit gewahrt, die zarten Frühchenkörper mit den bläulichen Gesichtchen gepäppelt, bis sie sie eines Tages den Eltern überreichen konnte, begleitet von dem kleinen Satz, der stets zu Tränen rührte, weil er ein Wunder in Worte fasste: Ihr Kind wird leben. Heute jedoch saß Louise in einem der Zimmer, in denen die Wand gegenüber dem Bett blau war, hellblau, fast pastellig. Sie arbeitete inzwischen dort, wo man nicht ankam, sondern ging. Ins Blau. Die Farbe des Himmels. Sie hatte sich auf diese Station versetzen lassen, weil ihr die Vorstellung gefiel, dass es andere Wege gab. Ich begleite dich. Ich gehe mit dir. Bei jedem Patienten, jeder Patientin erfuhr sie eine neue Form der Liebe. Erlebte einen neuen Triumph, wenn die Angst verflog. Wenn die Krankheit nicht länger ein Kampf, sondern die verbleibende Zeit ein Segen war. Man konnte Kriege gewinnen, indem man sich einfach fallen ließ. Gerade jetzt hielt sie die zerschlissene Spitzenhand von Jeanne. Jeanne, die keine Angst mehr hatte, nicht mehr weinte, nicht länger auf ihre beiden erwachsenen Söhne wartete, die hätten kommen sollen, die es fest versprochen hatten, »diesen Samstag, Maman, wir kommen diesen Samstag«, weil der Arzt ihnen gesagt hatte, dass sie nicht zu lange zögern dürften, wenn sie sich verabschieden wollten, »einen verpassten Abschied verwindet man nie«, also hatten sie es geschworen, »diesen Samstag, wir brechen früh auf, dann sind die Straßen leer«. Die beiden erwachsenen Söhne, die nicht gekommen waren. Nun wurde das Röcheln schwächer, verwandelte sich in ein gasgleiches Zischen, während Louise Jeanne die Worte einer Tochter und einer Schwester zuflüsterte, die Worte einer Mutter, einer Geliebten. Skopolamin und Morphin hatten in der Stille des hohlen Körpers ihr Werk verrichtet. Jeanne litt keine Schmerzen. Jeanne ging sanft. Der Hunger war verschwunden, das Feuer erlosch, während die beiden erwachsenen Söhne an der Mautstelle Fleury-en-Bière festsaßen, inmitten der beherzten Demonstrierenden, des Mimosenmeers, der lautstarken Lieder aus den Autos, des Fettgeruchs. Eine Kirmes. Beherrschte Wildheit. Zur selben Zeit liefen auf den beiden großen Fernsehern im Eingangsbereich des Krankenhauses die immer gleichen Bilder in Dauerschleife. Man sprach von über zweihundertachtzigtausend Teilnehmern. Zweihundert Verletzten. Vielleicht vierhundert. Das war noch unklar. Darunter auch Polizistinnen und Polizisten. In kritischem Zustand. Vorläufige Festnahmen. Gewahrsam. Die Kommentatoren liefen zu Höchstform auf. Gelbwesten sehen rot, ärgern sich schwarz. Tankstellen, Supermärkte, Mautstellen waren blockiert. Zweitausend Demonstrationen in ganz Frankreich. An einigen Kreisverkehren zückten die Ordnungshüter die Schlagstöcke. Das beste Mittel gegen Wut sind ein paar ordentliche Arschtritte. Weiterfahren. Weiterfahren. Mehrere Krankenhausbesucher kommentierten das Geschehen leise. Man wusste ja nie, was die Sitznachbarin dachte. Andere versuchten ihre schreienden Kinder zu beruhigen. Die sofort eine Cola wollten. Die keine Lust hatten, Opi zu sehen. »Der hat immer Mundgeruch, das ist total eklig.« Wieder andere rauchten vor der breiten Eingangstür aus Glas, zogen wie Erstickende an ihren Glimmstängeln, ehe sie sich mit verlorenen Blicken umdrehten und zu ihren Angehörigen gingen, die gerade an einem Thymusdrüsenkarzinom oder einem Mesotheliom verreckten und über diese Dreckskrankheiten schimpften. In Pont-de-Beauvoisin in Savoie war eben eine Dreiundsechzigjährige von einer Frau überfahren worden, die beim Anblick der Gelbwesten Panik bekommen hatte – das erste Opfer des Krieges, der hier ausgetragen wurde. Im fünften Stock des Hôpital Thomazeau erlagen unterdessen die vierundsiebzigjährige Jeanne einem Adenokarzinom und der zweiundachtzigjährige Maurice zwei Zimmer weiter den Folgen einer ALS. Louise war bei Jeanne geblieben, der kalt gewesen war. Maurice starb im Kreise seiner Lieben. Im Stationsstützpunkt sagten sie, er sei mit einem Lächeln auf den Lippen gegangen. Die Familie habe erleichtert gewirkt. Der gesamten Station gedankt. Versprochen, Blumen zu schicken. In Paris blieb die Lage rund um den Élysée-Palast angespannt. Tausendzweihundert Personen waren noch immer an der Place de la Concorde versammelt. Louise kehrte nach Hause zurück. Es war ein Samstag wie jeder andere gewesen. Familientag. Chaos in den Gängen. Dreckige Toiletten. Nach Hause zurück zu ihrem Mann, den sie heute Morgen gar nicht gesehen hatte, fünf seiner alten Freunde hatten ihn gegen vier Uhr früh abgeholt, um einen Kreisverkehr auf der Landstraße zu blockieren. Sie hatte ihm zwei Thermoskannen Kaffee auf den Küchentisch gestellt. Schwarzen Kaffee, kaum genießbar, wie Pierres Laune seit Langem. Nach Hause zurück zu ihrem Sohn. Den sie zu selten in den Arm genommen hatte. Wegen dem die Leidenschaft ihres Mannes erloschen war.

Die wärmste aller Farben

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