Читать книгу Die wärmste aller Farben - Grégoire Delacourt - Страница 7

Rot

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Wie hatte sie ihren Mann geliebt. Eine Zeit lang hatte sie ihn sogar mit »mein Mann« angesprochen, wegen der Chansons von Edith Piaf, die ihre Mutter immer gehört hatte, die Gassenhauer von damals, in denen unwiderstehliche Männer nach Leder und heißem Sand rochen, einem die Ehre raubten, gleichzeitig Schurke, Großmaul und Märchenprinz waren. Die Welt hatte sich verändert. Heute klangen die Texte eher vorsichtig, sogar misstrauisch, aber das verhinderte nicht die Raserei zu Hause, brutale Worte, zerfleischte Körper. Als dieses Jahrhundert noch in den Kinderschuhen steckte, hatte sie Pierre kennengelernt, wie in einem Chanson des Spatzen von Paris, inmitten der mitreißenden Menge, und sie sah wieder die feiernde, tobende Stadt vor sich an jenem 21. April, als um zwanzig Uhr die einäugige Visage Le Pens auf den Fernsehschirmen erschienen war, des Meisters der Hetzrede, der mit einem jüdischen Sänger »nicht lange fackeln« wollte und Minister Durafour als »Monsieur Krematorium« bezeichnete, Aids mit Lepra gleichsetzte und die Gaskammern ein Detail des Zweiten Weltkriegs nannte – NIE WIEDER! KEIN VERGEBEN, KEIN VERGESSEN! –, nur hundertvierundneunzigtausendsechshundert Stimmen vor Lionel Jospin, gerade mal die Einwohnerzahl von Le Havre, das Chaos war wirklich nie weit, und in dem Café, in dem sie alle die Auszählung des ersten Wahlgangs verfolgt hatten, verwirrt, verstört, inmitten der Musik und der Schreie, die losbrachen, Rache forderten, ringsum widerhallten, hatte die Menge Louise in Pierres Arme geschleudert, ihre Körper gegeneinandergepresst, sie umschlungen, sie waren geflogen, und wie in einer traurigen Filmszene auf einem verqualmten Bahnsteig kurz vor der Abfahrt an die Front hatte Louise ihn geküsst, und dieser impulsive Kuss hatte sich schnell in einen leidenschaftlichen verwandelt, eine Verbrennung im Gedränge. Eine Dringlichkeit, ein Notfall. Erst im Morgengrauen hatten sie, entkräftet, salzig, hüllenlos, ihre Vornamen ausgetauscht wie Verlobungsringe. Später hatte Le Pen seine Niederlage schlucken müssen. Sich den Mund mit dem Peelinghandschuh auswaschen. Auch wenn der Menhir im zweiten Wahlgang siebenhundertzwanzigtausenddreihundertneunzehn Stimmen mehr als im ersten eingefahren hatte, war seine Mehrheit zerbröselt, und der große Jacques Chirac hatte die Sache wieder in die Hände genommen, ein Bier in die eine, die Kruppe einer hübschen Färse auf der Landwirtschaftsmesse in die andere. Und alles war wie vorher geworden. Niemand hatte die Wut erahnt. Die Sorgen bemerkt. Man war gerade noch einmal davongekommen. Siebzehn Jahre später streifte sich die Verzweiflung neongelbe Warnwesten über. Jetzt bemerkte man sie schon von Weitem. Tag und Nacht. Zwischen Louise und Pierre war die Dringlichkeit unvermindert, pulsierend, endlos geblieben, bis zu Geoffroys Geburt. Bis zu Geoffroys Schweigen. Bis zu Geoffroys Anfällen, wenn einer von beiden ihn auf den Arm nehmen wollte. Ihn streicheln. Kennenlernen. Bis zu Geoffroys unaufhörlichem Wiegen, vor und zurück. Geoffroy, der sich einigelte. Der seinen Kopf gegen die Wand schlug. Der sich die Ohren zuhielt, weil es ihm zu laut war. Geoffroy. Das fremde Wesen. Ein Kind, in dem niemand wohnte. Deshalb hatte Pierre sich zurückgezogen. Langsam. Fast widerwillig. Der tiefe Fall eines Mannes. Aus Angst, wie so oft. Ekel. Einer uralten Scham. Der Junge zehrte sie auf. Das fehlende Lachen zu Hause trübte ihre Gesichter, ihre Blicke. Geoffroy war ein Feuer, das nicht wärmte. Die Brandwunden ihrer Leidenschaft vernarbten. Ihre Haut wurde zu Leder. Und wenn sie sich doch ab und zu liebten, prallten ihre Körper aneinander, verletzten sich. Ihr Blut tanzte nicht länger. Vor der großen Kündigungswelle in der Fabrik hatte Pierre darum gebeten, Überstunden machen zu dürfen, um später nach Hause zu kommen, um gar nicht mehr nach Hause zu kommen, um auf Parkplätzen herumzulungern, mit den Kumpels über Gott und die Welt zu diskutieren und manchmal im Auto Julie zu befummeln. Bei Kälte. Bei Kummer. Die gute Julie tröstete die Männer. Und Louise hatte wieder im Thomazeau angefangen, im ersten Stock. Sie streichelte andere Kinder. Gurrte Koseworte, während sie drei EKG-Elektroden auf einen winzigen Körper klebte oder die Hautfalten eines Babys im Brutkasten säuberte. Manchmal weinte sie. Manchmal brach sie zusammen. Anschließend ging sie nach Hause, holte Geoffroy von der Tagesmutter ab, einer liebenswerten, geduldigen Omi. Sie kochte, gab ihm Suppe, sprach über die Farben – »die Suppe ist grün, Erbsen, Brokkoli, Karotten, stimmt, die sind eigentlich orange, aber das Grün überwiegt, das Püree ist gelb, siehst du, gelb wie die Sonne, wie der Löwenzahn und die Butter, und hier das Rot, Erdbeeren, Kirschen und die kleinen Herzen, die wir malen« –, und das unbewohnte Kind schaute seine Mutter an wie das Nichts, die Leere, das Blau des Himmels. Am Kreisverkehr ließ der Mann inzwischen das Fenster seines Cayennes herunter. Der Junge auf der Rückbank hob nicht einmal den Kopf von seinem Tablet, er stöhnte nur genervt wegen des Lärms, der hereindrang. Der kalten Luft. Der Fahrer lächelte Pierre an, und Pierre fragte ihn, warum er eine Warnweste auf seinem Armaturenbrett liegen habe. »Um auszudrücken, dass ich eure Wut verstehe.« Pierre kochte über. »Ach, du verstehst unsere Wut? Unsere Not? Du kannst dir ’nen Schlitten für über Hunderttausend leisten, aber dir ist klar, dass für uns jeden Monat am zwanzigsten Sense ist, dass wir die Tage zählen, die Stunden bis zum nächsten Lohn? Hast du ’ne Ahnung, wie viel ein Kilo Bintje-Kartoffeln kostet, Mann?« »Ungefähr ein Euro dreißig, aber direkt beim Bauern, in Le Pont d’Achelles zum Beispiel, bekommt man sie für fünfundsechzig, siebzig Cent.« »So was weißt du?« »Ich muss auch einkaufen wie jeder andere, und mit zwei Söhnen lernt man irgendwann, dass Bintje für Pommes am besten sind.« Pierres Gesicht verzerrte sich zu einem flüchtigen Lächeln. Beinahe einer Grimasse. Was für eine surreale Unterhaltung. »Glückstreffer«, knurrte er. »Aber wahre Not heißt nicht, den Preis für etwas zu kennen, sondern es sich nicht leisten zu können.« »Das weiß ich ebenfalls«, sagte der freundliche Mann hinter dem Lenkrad, »ich zahle meinen Anteil, glauben Sie mir, mehr als die Hälfte von allem, was ich verdiene, geht an den Staat.« »Sieht nicht so aus!« Pierre versetzte der Motorhaube, der Windschutzscheibe des Porsches ein paar fiese Schläge, die wehtun sollten, eine Keilerei zwischen zwei Hengsten, dann rief er: »Na los, verschwinde mit deiner Kackkohle, hau ab!«, und wenn sein Herz in diesem Moment ungewöhnlich laut pochte, lag das nicht an der Erregung, am Gefühl der Ungerechtigkeit, das wiederaufgeflammt war, nicht an der abgedroschenen Dialektik arm/reich, oder dem Klassenkampf, Aristokraten an die Laterne, Weihnachten in Saint-Tropez/Ostern am Galgen, nein, seine Wut entsprang seiner Feigheit als Mann, seinen Schwächen als Vater, »mit zwei Söhnen lernt man irgendwann bla, bla, bla«, das hatte ihm den Dolchstoß versetzt, der Stolz eines Papas, ein glücklicher Mann, dieser Idiot mit seinem Drecksporsche, der die Königin der Kartoffeln direkt beim Bauern kaufte, weil seine Bengel nur das Beste verdienten, weil man nie sagen konnte, ob man morgen noch da war, deshalb musste man schöne Dinge für schlechte Tage hinterlassen, weil er seine Blagen liebte, weil der verdammte Scheiß-Geoffroy noch nie erklärt hatte, dass Bintje für Pommes besser seien als Belle de Fontenay, die sich wiederum perfekt für Pellkartoffeln eigneten, und die verfickten Yukon Gold für Kartoffelgratin, weil Geoffroy tausend Sachen wusste, zehntausend, eine Million, alles, was in Büchern stand, aber nie darüber sprach, weil ihn auch nie jemand fragte, weil ich, sein Vater, ihn nie etwas frage. Der Cayenne war weg, aber Pierre stoppte keine Autos mehr. Julie kam auf ihn zu, einen Plastikbecher mit einem ordentlichen Schluck Cognac in der Hand, »hier, Pierre, du bist ja bleich wie ein Oma-Arsch«, aber keiner der anderen lachte, sie kannten die Entgleisungen der beiden, die Codewörter, die Rettungsringe, und plötzlich fing Julie an zu schreien: »Deine Hand! Deine Hand!« Wie eine Fuchsie, und als Pierre die Faust öffnete, entfalteten sich fünf blutige Blütenblätter, die Verletzung war übel, ein klaffender Schnitt vom Scheibenwischer, an dem er sich in seiner Rage kurz zuvor den Handteller aufgeschlitzt hatte.

Die wärmste aller Farben

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