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Grün

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Die Sonne ging gegen siebzehn Uhr unter. In Paris rückte die Nationalpolizei, ausstaffiert wie wütende Kendokas, wie Samurai in voller Montur, wie Prinzen des Krieges, beim Élysée-Palast gegen die letzten Träumer vor. In der Provinz räumte man ein paar Kreisverkehre, besang einen ersten Sieg und versprach sich Tausende. »Gallien läuft die Galle über!« Alle lachten, stießen an. Verabredeten sich wieder, schrien: »Ende der Welt, Ende des Monats – derselbe Kampf!« Sie fühlten sich unbesiegbar. Unbeirrbar. »Wir wollen auch Vermögenssteuer zahlen!« Louise kehrte nach Hause zurück. Ein Samstag wie jeder andere. Sie schürte den Ofen in der Küche an, das Holz fing rasch Feuer – »das ist Pappel, das erkennt man an der glatten, gelblichen Rinde«, hätte Geoffroy erklärt. Und hätte man den Jungen weiterreden lassen, hätte er ergänzt, dass man sie auf dem Land auch Silberweide nenne, weil man ihre jungen Zweige im Weinbau anstelle von Weidenruten verwende, obwohl sie sich dafür schlechter eigneten. Kurzum. Louise schenkte sich ein Glas grün schimmernden Chardonnay ein und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Geoffroy liebte Bäume und Wälder. Er liebte Rinden und Blätter – die umgekehrt herzförmigen, die sichelförmigen, die schrotsägeförmigen. Er liebte Grün. Beruhigendes, stilles Grün. Einmal hatte er ihr erzählt, es sei die Farbe der Pachamama, der Mutter Erde, der großzügigen und gefährlichen Göttin der indigenen Andenvölker, die überall verehrt werden konnte, weil die ganze Erde ihr Tempel war, sie verkörperte Fruchtbarkeit, Überfluss, Weiblichkeit. Aber nun ja, Mütter können den Vorträgen ihres kleinen Dreizehnjährigen nicht immer folgen, und Louise hatte an jenem Tag nicht geahnt, welchen Weg Geoffroy einschlagen würde. Pierre kam nach Hause, die Hand in ein scharlachrotes Tuch gewickelt, fast als hielte er ein blutiges Steak, und Louise’ Lächeln erlosch. Sie säuberte die tiefe Wunde. »Damit musst du morgen ins Thomazeau, zur Sicherheit, Tetanusspritze und Immunglobulin«, sagte sie. »Aber fürs Erste kann ich dich hier zusammenflicken.« Pierre gab sich zimperlich. »Ich will lieber gleich ins Krankenhaus.« Also fragte sie, was passiert sei. »Auto«, murmelte er. »Wollte die Sperre durchbrechen. Ein Vollidiot.« »Und du wolltest ihn mit bloßen Händen aufhalten? So wie Dwayne ›The Rock‹ Johnson?« Noch mehr Gemurmel. »Schon klar, das war blöd, aber ich war nicht allein, Tony war dabei und Jeannot, ich hab versehentlich den Scheibenwischer getroffen, dumm gelaufen.« »Warum machst du das, Pierre?« »Was? Warum mache ich was?« Er stand auf, schenkte sich seinerseits ein großes Glas des grün schimmernden Chardonnays ein. Trank die Hälfte. »Ist Geoffroy noch nicht wieder da?« »Er kommt bestimmt gleich, ich habe ihm bis sechs gegeben. Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Was mache ich denn, Louise? Ich mache mein Maul auf, wenn du’s unbedingt wissen willst, ich mache endlich mein Scheißmaul auf!« Er seufzte. »Ich war glücklich heute. Ich habe existiert. Ich war nicht bloß der blöde Nachtwächter, den niemand mit dem Arsch anguckt. Bei Auchan bin ich ein Hund. Nicht mal das, Hunde werden wenigstens gestreichelt.« Stille. »Wir haben etliche Autos gestoppt, vielleicht fünfzig, vielleicht hundert, niemand hat gezählt, und die Leute haben nicht protestiert. Wir haben über uns geredet. Was uns verbindet. Wir haben geträumt. Wir waren zusammen, und das war gut. Wir sind über die hergezogen, die uns niederdrücken. Ihre Arroganz. Ihre Verachtung. Über die tollen Pariser, die keine Ahnung haben, wie es sich anfühlt, wenn am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig ist. So war das heute, Louise. Wir haben entdeckt, dass das Feuer nie erlischt, egal wie wenig Macht die uns lassen, unser Leben und das unserer Nachbarn zu ändern. Darum ging’s. Zu wissen, dass man in seinem Leid nie allein ist. Warum wir nicht glücklich sind.« »Und warum sind wir nicht glücklich?« Pierre leerte sein Glas. Wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Dann betrachtete er seine Frau. Die schöne Louise. Der die Männer auf der Straße hinterherpfiffen. Eine blonde Chiara Mastroianni. Er erinnerte sich an ihren ersten Kuss im Feuer des 21. April 2002, und er lächelte und er war schön, wie damals, als sie so hell gebrannt hatten, und er verkündete: »Wir machen heute Abend Pommes, richtig gute Pommes, mit Bintje. Hast du gewusst, dass das die besten Kartoffeln für Pommes sind?« Louise’ Herz schlug ein wenig schneller. Pierre rief Jean-Mi an. »Hast du Bintje? Nein, nicht Charlotte. Bintje. Alter, bist du noch stoned oder was? Du gehst mir echt auf den Sack.« Wütend legte er auf, gerade als Geoffroy hereinkam. Es war Punkt sechs. »Wo warst du?« »Bei Djamila.«

Die wärmste aller Farben

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