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Potenzial des Konzepts Translationskultur

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Im Mittelpunkt des Bandes steht das von Erich Prunč seit 1997 entwickelte Konzept, das auf unterschiedliche Sprach- und Kulturräume übertragen, in diesen erprobt und dadurch eventuell auch erweitert wird.

Ein Blick auf Prunčs Umgang mit seinem Konzept ergibt einen seit seiner Ersterwähnung im Jahr 1997 stabil gebliebenen begrifflichen Kerninhalt, den Prunč etwa 2001 wie folgt zusammenfasste:

Unter Translationskultur wollen wir das historisch gewachsene, aktuell gegebene und grundsätzlich steuerbare Subsystem einer Kultur verstehen, das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und aus einem Set von gesellschaftlich etablierten Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner besteht (Prunč 2001: 285; vgl. auch Prunč 1997: 107, 2008: 24f. u. 2017: 32f.)

Mit Translationskultur wurde von Prunč ein multiperspektivisches Konzept entworfen, das sowohl die translatorischen Handlungsformen als auch den sie prägenden zeitbedingten, normativen und diskursiven Handlungsraum erfassen sollte. Im Gegensatz zu diesem Kerninhalt erfuhr das Konzept die stärksten Änderungen vor allem in seiner theoretischen Untermauerung: Wo sich das Konzept zunächst (vgl. Prunč 1997; 2001) noch primär an funktionale Translationstheorien bzw. translatorische Handlungstheorien (vgl. u.a. Vermeer 1983; Holz-Mänttäri 1984; Reiß/Vermeer 1984; Nord 1989; Vermeer 1990) und Begrifflichkeiten der deskriptiven Translationswissenschaft anlehnte, wurde es später stärker mit soziologischen Perspektiven, insbesondere mit Bourdieus Kapital- und Habitus-Begriffen, verknüpft (vgl. Prunč 2008). Die konsequent vollzogene gesellschaftliche und kulturelle Einbettung der Translationskultur als „gesellschaftliches Konstrukt“ stellte das „innovative und produktive“ Potenzial des Konzepts (vgl. Schippel 2008) immer deutlicher in den Vordergrund, wobei dieses bis heute alles andere als ausgeschöpft ist.

Ob in der Praxis des Gebärdensprachdolmetschens (Grbić 2010) oder des modernen Translationsmanagements (Risku 2010), im Spannungsfeld des Community Interpreting in Einrichtungen der Sozialverwaltung oder bei der Polizei (Pöllabauer 2006, 2010), gemein ist diesen und anderen Projekten, in denen das Konzept bisher erprobt wurde, die Tatsache, dass dies in der deutschsprachigen Translationswissenschaft geschah. Außerhalb derselben sind derartige Anwendungsversuche viel seltener, was sicherlich in nicht geringem Ausmaß damit zusammenhängt, dass Prunčs theoretische Ausführungen nur beschränkt auf Englisch vorliegen. Dementsprechend unsichtbar ist das Konzept in dem einschlägigen englischsprachigen Diskurs auch geblieben. Eine kurze Diskussion des Konzepts ist in Anthony Pyms (2006) Einführung zum Sammelband Translation and interpreting: Socio-cultural perspectives wie auch in Sonja Pöllabauers (2006) Beitrag zu demselben Band zu finden. Auf Englisch wird auf das Konzept auch in einigen Beiträgen aus dem finnischen Forschungsprojekt In Search of Military Translation Cultures flüchtig eingegangen, in dem der Versuch unternommen wurde, die translatorische Praxis mit ihren AkteurInnen und Rahmenbedingungen im Zweiten Weltkrieg in Finnland als Translationskulturen zu rekonstruieren (vgl. z.B. Kujamäki 2012; Kujamäki/Footitt 2016). Anzumerken ist schließlich auch, dass das englische Pendant translation culture terminologisch gesehen nicht ohne Probleme zu sein scheint, weil damit gelegentlich auch das benachbarte Konzept Übersetzungskultur ins Englische übertragen wird und weil auch andere ähnlich klingende Bezeichnungen wie cultures of translation (vgl. Baer 2011) oder translational cultures (Simon 2011: 17; Flynn/Doorslaer 2016: 76) oft irreführend einen ähnlichen Begriffsinhalt vermuten lassen.

Über das oben genannte Potenzial ist nichtsdestotrotz nicht hinwegzusehen. Es schlägt sich vor allem in der Perspektivenvielfalt nieder, die aus dem Konzept abgeleitet werden kann. Wie auch der angeführten Definition zu entnehmen ist, wird Translationswissenschaft mit der Translationskultur vor zwei Aufgaben gestellt, bei denen das Konzept je nach den Zielsetzungen den Forschungsgegenstand oder die methodologische Grundlage der Analyse darstellen kann: Zum einen geht es um die Rekonstruktion und kritische Auswertung historischer bzw. gegenwärtiger Translationskulturen, um Gesetzmäßigkeiten von Translation, ihre jeweilige gesellschaftliche Rolle und ihre kommunikativen Ausprägungen, das Beziehungsgeflecht der im Handlungsraum beteiligten Institutionen und Akteur/innen sowie das manipulative Potenzial der translatorischen Agency aufzuzeigen (vgl. Prunč 1997: 107; Prunč 2017: 32). Zum anderen steht die Translationswissenschaft aber auch vor der ethisch und moralisch geprägten Aufgabe, unter anderem auf Rekonstruktionen und kritische Status-quo-Deskriptionen aufbauend, im Sinne einer Konstruktion von Translationskulturen zu agieren, wobei der Idealtypus bzw. die „Utopie“ einer demokratischen Translationskultur mit ihren vier Prinzipien (Kooperativität, Loyalität, Ökologizität und Transparenz) den angestrebten Zielwert darstellt (vgl. Prunč 2008: 30–34; 2017: 32–36).

Im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs steht die erstgenannte historisch-rückblickende Aufgabe, wobei ein/e aufmerksame/r Leser/in hier und da einzelne Aspekte erkennen wird, die auch in gegenwärtigen Translationskulturen sichtbar sind und bei denen auf dem Weg zu ihrer demokratischen Ausprägung Gesprächs- und Handlungsbedarf vorliegt.

Translationskultur als Forschungsobjekt oder Erklärungsmodell

Für die Operationalisierung des hier im Mittelpunkt stehenden Konzepts haben die Autor/innen zwei unterschiedliche Wege genommen. In der Mehrzahl der Beiträge wird Translationskultur als Objekt der Deskription betrachtet, aber in einzelnen Artikeln wird auch der Versuch unternommen, das Konzept der Translationskultur mit den von Prunč vorgelegten Dimensionen als eine operative und reflexive Folie zu verwenden, mit der der aktuelle Stand des spezifischen translatorischen Handlungsraums mit seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen – beispielsweise in Bezug auf das oben genannte „demokratische“ Ideal – erfasst werden soll.

Translationshistorische Analysen verfolgen nicht selten das Ziel, Formen translatorischer Handlungen sowie translatorischer Produkte in ihren historischen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhängen und -bedingungen zu verstehen, um auf diese Weise Wissen über Übersetzen und Dolmetschen in der Vergangenheit und ihre Bedeutung in mehrsprachigen Kommunikationskontexten zu akkumulieren. In diesen Bemühungen ist Translationskultur zumeist als historisch-räumlich-kulturell näher definiertes Objekt eines Rekonstruktionsversuchs aufzufassen. Dabei handelt es sich idealtypisch um ein Zusammenführen von translatorischer Praxis (Produkte und Handlungen) und auf Translation bezogenen, in Prunčs Definition erwähnten gesellschaftlich etablierten Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen (vgl. Prunč 1997: 107). Die Analyse bemüht sich somit um ein gesellschaftliches (Re-)Konstrukt, das den „Konsens und Dissens über zulässige, empfohlene und obligatorische Normen der Translation“ (Prunč 2012: 331) in der gegebenen historischen Situation zu erfassen versucht.

In dieser kurzen Form unterstellt die Aufgabenbeschreibung jedoch eine gewisse methodologische Einfachheit, die in konkreten translationshistorischen Projekten den epistemologischen Anforderungen nicht entspricht. Dies ist zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass sich Prunč als „Translationsphilosoph“ (vgl. Schippel 2019) wohl um kein ultimativ ausgearbeitetes, wissenschaftstheoretisch hieb- und stichfestes Konzept bemühte, sondern es offen für sowohl unterschiedliche Anwendungsversuche als auch eine kritische Weiterentwicklung desselben halten wollte. Allein der Begriff Kultur führt zu nicht unbedeutenden definitorischen Herausforderungen: In Prunčs Verwendung enthält Translationskultur Merkmale nicht nur eines intellektuell-ästhetischen Kulturbegriffs (mit Verweis auf epochen- und kulturspezifische Schönheitsideale mit diesbezüglichen Wandlungsprozessen) und eines instrumentellen Begriffs (im Sinne einer etablierten Praxis oder policy; vgl. Geschichtskultur, Militärkultur oder Unternehmenskultur), sondern auch Merkmale eines anthropologischen Kulturbegriffs (mit Fokus auf die Gesamtheit kollektiver Denk- und Handlungsmuster) (vgl. Lüsebrink 2012: 10f.). Über diese begriffsinhaltlichen Dimensionen hinaus ist vom Problem der kulturellen Abgrenzung bei der historischen wie auch der gegenwärtigen Konstituierung und Konzeptualisierung der Translationskulturen nicht hinwegzusehen: Wie konstituiert sich das Handlungsfeld Translation und der damit zusammenhängende Rekonstruktionsversuch in Beziehung zu nationalen, institutionellen, sprachlichen oder sonstigen Grenzziehungen? (Zu Konstituierungs- und Verortungsprinzipien des Handlungsfelds vgl. u.a. Wolf 2010.) Oder ist vielmehr, als Zeichen der multiperspektivischen Kraft des Konzepts, dezidiert zwischen intrakulturellen, interkulturellen und internationalen Wirkungsebenen der Translationskultur zu differenzieren (vgl. Schippel 2008: 12)? Die begriffliche Weite erzwingt offensichtlich eine Reduktion der Perspektive auf Teilausschnitte oder -aspekte der Translationskulturen und eine schrittweise Annäherung an die zu erzielende Rekonstruktion. Bei einer derartigen Annäherung bieten sowohl die in Prunčs Definition erwähnten Einzelaspekte (u.a. Norm, Konventionen, Erwartungen) als auch weitere inhaltlich benachbarte Begriffe methodologische Anhaltspunkte. Zu diesen gehören u.a. Übersetzungskultur oder Translationspolitik.

Mit Übersetzungskultur werden die intellektuell-ästhetischen Dimensionen des Konzepts von Prunč in den Vordergrund gestellt, indem die Kultur und Tradition des literarischen Übersetzens mit ihren thematischen und gattungsspezifischen Schwerpunkten, Diskurse über die Aufgabe der literarischen Übersetzer/innen sowie, davon abgeleitet, die grundsätzliche Offenheit oder Geschlossenheit von Zielkultur und zielsprachlicher Literatur analysiert werden. (Vgl. Frank 1989; zu Gegenüberstellungen Übersetzungs- vs. Translationskultur vs. Regime, s. Pym 2006; Kujamäki 2010.)

Mit Translationspolitik wird dagegen die Aufmerksamkeit stärker auf instrumentelle und anthropologische Dimensionen von Translationskulturen gerichtet: Die Analyse geht, über die translatorische Praxis hinaus, den diese Praxis steuernden nationalen, staatlichen oder gar unternehmensspezifischen Prinzipien und Entscheidungen (inklusive Gesetzgebung und ihre Anwendung) nach, die unter anderem die Verwendung von Translation bei Behörden oder die Auswahl und Verfügbarkeit von Translaten und damit oft auch den Zugang sprachlicher Minderheiten zu gesellschaftlichen Diskursen in mehrsprachigen Kontexten regulieren. Erfasst werden auch die in der Gesellschaft herrschenden Diskurse über Mehrsprachigkeit und Notwendigkeit, Nutzen und Wert der Translation, d.h. „kollektive Denk- und Wahrnehmungsmuster“ (vgl. Lüsebrink 2012: 11), die sich wiederum in den genannten einschlägigen Entscheidungen für oder gegen Translation niederschlagen können.1

Aus der allgemeinen Aufgabe der translationskulturellen Rekonstruktion lassen sich für konkrete Analysen unterschiedliche Teilaufgaben ableiten: Von Interesse ist zunächst die Praxis des Übersetzens und Dolmetschens in dem jeweiligen sprachlichen und/oder geografischen Raum, d.h. ihre Ursprünge und vergangene Formen, historisch markante Etappen sowie gegenwärtige Inhalte, die in Bezug auf ihre kultur- und ortsspezifischen Rahmenbedingungen beschrieben und analysiert werden können. Beispiele für solche Rahmenbedingungen schließen unter anderem die offizielle Sprach- und Kulturpolitik eines Staates oder die durch unterschiedliche offizielle oder inoffizielle Instanzen vertretene Translationspolitik ein, die einmal auf die Übersetzungstätigkeit, dann aber auch sowohl auf den Zugang der Bürger/innen zu übersetzten Produkten als auch auf ihre Möglichkeiten, an den gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen durch Translation teilzuhaben, direkten Einfluss haben.

Zum Inhalt des Bandes

Die genannten übersetzungskulturellen und translationspolitischen Dimensionen von Translationskulturen kommen in den einzelnen Fallstudien des vorliegenden Bandes in unterschiedlicher Stärke zur Anwendung und werden auch mit diversen sozialen und kulturellen Funktionen von Translation verbunden. Wird Übersetzungstätigkeit zum Beispiel mit Fragen der Identitätskonstruktion verknüpft, wird ein Mechanismus sichtbar, der genauso entscheidend zur Entstehung und Entwicklung von Translationskulturen beitragen kann wie der bloße alltägliche Kommunikationsbedarf. So zeigen Fiona Begley und Hanna Blum in ihrem Beitrag „The role of translation in the Celtic Revival: Analysing Celtic translation cultures“, wie Übersetzungstätigkeit sowohl von der englischen Kolonialmacht als auch von keltischen Kolonisierten für ihre jeweils eigenen kommunikativen, kolonialen und identitätsfördernden Ansprüche instrumentalisiert wurde. In dem Beitrag „Un paese, 6.000 lingue: Binnenübersetzung als Teilbereich der italienischen Übersetzungskultur“ geht Emanuela Petrucci wiederum den Charakteristika, Funktionen und der spezifische Bedeutung von literarischen Binnenübersetzungen in der italienischen Literatur nach. Aufgezeigt werden wichtige auslösende Faktoren wie das Bemühen um breitere Verständlichkeit, Sichtbarkeit und einen höheren Status der literarischen Werke und einzelnen Sprachvarietäten – Auslöser, die in den sich entwickelnden Übersetzungs- und Translationskulturen nicht selten zu beobachten sind.

Kultur- und zeitspezifische Diskurse zu Translation sind ein weiterer wichtiger Bestandteil historischer Translationskulturen und ihrer Rekonstruktionsversuche. Von Interesse sind dabei normative Aussagen zu „angemessenen“, „unangemessenen“ oder „notwendigen“, „erlaubten“ oder gar „verbotenen“ Formen von Translationstätigkeit und Übersetzungen (als Texte), die Schlüsse über die die jeweilige Translationskultur konstruierenden Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen zulassen. In ihrem Beitrag „Ungarische Translationskultur im Sozialismus: Zensur, Normen und Samisdat-Literatur“ besprechen Edina Dragaschnig und Claus Michael Hutterer die in der Ära Kádár manifestierten literarischen und translatorischen Normen sowie die Entstehung und Funktion der Samisdat-Literatur als Gegenreaktion auf die Zensur in Ungarn in den Jahren 1945 und 1989. Die Handlungsbereitschaft und die Handlungsformen der ungarischen Samisdat-Akteur/innen zeigen, dass Translationskulturen auch jenseits offizieller Institutionen entstehen oder geprägt werden können.

Der Aspekt der Verfügbarkeit und Verbreitung von Übersetzungen wird auch von Philipp Hofeneder aufgegriffen. In seinem Beitrag „Kommunikationskanäle der sowjetischen Translationspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ geht der Autor den Mechanismen und Diskursen nach, die nicht nur die Produktion von Übersetzungen, sondern auch deren Zugänglichkeit und Öffentlichkeitsstatus in der sowjetischen Gesellschaft regelten.

Über die Bedeutung von staatlichen oder sonstigen prestigeträchtigen Institutionen für die Konstruktion von Translationskulturen und für die Etablierung der sie konstituierenden Normen und Konventionen ist nicht hinwegzusehen. Petra Cukier und Alexandra Marics nehmen dies zum Ausgangspunkt ihres Artikels „Von den Jeunes de Langue zu den Interprètes de Conférence: Institutionelle Normgebung in der Translationskultur Frankreichs“, in dem sie die französischen Etappen der Dolmetschausbildung sowie ihren normbildenden Einfluss auf die Professionalisierung des Dolmetschens nachzeichnen. Dieser Einfluss, vor allem aber die Forschung und Lehre an der Ecole Supérieure d’Interprètes et de Traducteurs (ESIT), erstreckt sich bekanntlich weit über Frankreichs Grenzen hinaus und wird sicherlich auch weiterhin durch die Mitwirkung von etablierten Dolmetschdiensten (SCIC der Europäischen Kommission) sowie Berufsverbänden (AIIC) in Translationskulturen international sichtbar sein. Der Frage, welche translationskulturellen Nebenprodukte die starke Strahlkraft dieser Institutionen mit den von ihnen propagierten Rollenzuschreibungen herbeigeführt hat, müsste in einer weiteren kritischen Analyse nachgegangen werden. Ein wichtiger Hinweis wäre direkt bei Prunč zu finden, der von der „Neutralität in der Krise“ (2011) gesprochen und somit darauf aufmerksam gemacht hat, dass das institutionell etablierte, standesethische Neutralitätskonzept aus Perspektive der asymmetrischen Machtbeziehungen und der damit verbundenen Individualethik systematisch zu hinterfragen wäre. (Vgl. dazu auch Schippel 2019; zur translationsethischen Verortung von Berufskodizes s. Hebenstreit 2010.) Auf jeden Fall ist der Einfluss von ESIT, SCIC und AIIC zumindest in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen ist dies in Bezug auf die Hypothese von Pym zu betrachten, dass translatorische Regimes, die Pym (2006: 23f.) als „rough synonym“ für Translationskultur betrachtet, in erster Linie interkulturell, und in zweiter Linie kulturspezifisch ausgeprägt seien (Pym 1993: 38). Zum anderen hat auch Prunč (2008: 25) darauf verwiesen, dass Translationskulturen „über den jeweiligen Sprachraum hinausreichen können“.

Die Dynamik bei der Entstehung und Institutionalisierung translatorischer Berufsbilder steht auch im Mittelpunkt des Beitrags „Das Berufsbild von TranslatorInnen im türkischsprachigen Raum: Translationskulturelle Aspekte“ von Sevil Çelik Tsonev. Die Autorin befasst sich darin mit den osmanisch-türkischen Etappen der Institutionalisierung auf dem Weg zu den gegenwärtig sichtbaren Professionalisierungsmerkmalen der türkischen Translationskultur. Auch hier werden nicht nur eng „osmanisch-türkische“, sondern auch interkulturelle Einflussfaktoren sichtbar.

In den übrigen zwei Beiträgen wird Translationskultur als ein heuristisches Konzept für die analytische Betrachtung der komplexen Beziehungen um das einzelne translatorische Phänomen herum (Prunč 2008: 28) gehandhabt. Beiden Projekten gemein ist der Versuch, auf der Folie des von Prunč geprägten Konzepts und mit einschlägigem Archivmaterial den Interessen- und Kräfteausgleich zwischen den einzelnen an Translation beteiligen Personen und Institutionen zu analysieren und damit charakteristische Merkmale der Translationskultur aufzuzeigen. In ihrem Beitrag „Die slowenischen Übersetzungen des Reichsgesetzblattes der Habsburgermonarchie: Dimensionen der Translationskultur zwischen 1849 und 1918“ verwendet Aleksandra Nuč Translationskultur als ein Erklärungsmodell, mit dem nicht nur die an der Übersetzungstätigkeit beteiligten Individuen identifiziert werden, sondern auch deren Beweggründe, Kooperation, Öffentlichkeitsarbeit und Qualitätskriterien als Dimensionen der damaligen slowenischen Translationskultur nachgezeichnet werden.

Auch in dem Beitrag „Translationskulturelle Vorüberlegungen zur literarischen Übersetzung in der Sowjetukraine: Die Hürden der Bürokratie“ wird auf der Grundlage des Konzepts den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in die die Translation eingebettet ist, nachgegangen. Im Mittelpunkt dieser Analyse von Iryna Orlova steht die ukrainische Zeitschrift Vsesvit und ihr umfangreiches publizistisches Engagement für die Übersetzungen ausländischer Literatur ins Russische in der poststalinistischen Zeit von 1958 bis 1991. Auch hier werden das Beziehungsgeflecht und die normgebende Macht einzelner Institutionen und Akteur/innen in diesem translatorischen Handlungsfeld gezeigt und so die Spezifik der sowjetukrainischen Translationskultur illustriert.

Zum Schluss

Wie auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbands zeigen, kann die retrospektive Sicht auf translatorische Phänomene sehr unterschiedlich ausgerichtet sein (vgl. D’hulst 2010; 2012) und verschiedenen Motivationen folgen (vgl. Paloposki 2013). Diese Motivationen hat vor einiger Zeit auch Christopher Rundle in mehreren Impuls-Beiträgen (vgl. Rundle 2011; 2012; 2014) angesprochen, in denen er von seinen eigenen Erfahrungen ausgehend für translationshistorische Forschungen zwei für ihn gegensätzliche Hauptziele bestimmte, nämlich entweder die Rekonstruktion einer allgemeinen Translationsgeschichte („general history of translation“; vgl. Rundle 2012: 234), oder aber die Verknüpfung translationshistorischer Erkenntnisse mit der einschlägigen allgemeinen Historiografie:

When we carry out research on translation history, we have a choice. Are we going to attempt to extrapolate the translation features we uncover in the historical context we are examining in order to contribute to a wider, general or more global history of translation – thereby also making our work more accessible to Translation Studies (TS) in general – or are we going to address those scholars who share our historical subject and introduce them to the insights which the study of translation can offer? (Rundle 2011: 33)

Rundle geht es vor allem um die Frage, für wen die translationshistorischen Erkenntnisse in erster Linie relevant sein sollten. In der ersten Alternative, so Rundle, seien diese wegen der einschlägigen Begrifflichkeit nur für translationswissenschaftlich Eingeweihte zugänglich und interessant, wobei außerdem die Abstraktion zugunsten einer allgemein verständlichen Translationsgeschichte mit dem Verlust historischer Spezifizität der Erkenntnisse einhergehe. Um diesem Risiko zu entgehen, plädiert Rundle nachdrücklich für die zweite Alternative und regt Translationshistoriker/innen dazu an, über den eigenen diskursiven Tellerrand hinauszublicken und ihre Erkenntnisse dort zur Verfügung zu stellen, wo auch das Wissen über den spezifischen historischen Kontext vorhanden ist. Nach Rundle (2012: 239) sollten sich Translationswissenschaftler/innen also vor allem mit der Frage beschäftigen, was uns Translation über Geschichte erzählt und nicht umgekehrt, was uns Geschichte über Translation verrät.

Rundles Gedanken folgte eine Diskussion über die potenziellen Wege und Foren translationshistorischer Forschung (vgl. „Responses“ von Delabastita 2012, Hermans 2012, St-Pierre 2012; anderswo dazu u.a. Paloposki 2013), die ihn dann dazu veranlasste, seine binären Positionen geringfügig zu revidieren und etwas allgemeiner die Bedeutung beidseitiger interdisziplinärer Annäherung herauszuarbeiten (Rundle 2014: 4; vgl. dazu auch Paloposki 2013; Bandia 2014). Die Herausforderungen, die mit solchen Annäherungsversuchen verknüpft sind, sind vielen Translationswissenschaftler/innen bekannt (vgl. z.B. Kujamäki 2017: 314), und Lösungsoptionen, die nicht gleichzeitig mit dem Verzicht auf eigene Begrifflichkeiten einhergehen würden, sind nicht immer leicht zu finden. Wie auch von Schippel (vgl. 2008: 17f.) angenommen, könnte die von Prunč geprägte Translationskultur hier allenfalls das notwendige Potenzial eines interdisziplinären Brückenkonzepts beinhalten, das ein Operieren in beide von Rundle besprochenen Richtungen und einen Austausch zwischen diesen ermöglichen könnte. Mit seinen Determinanten zeigt das Konzept transkulturelle Dimensionen gesellschaftspolitischer Spannungsfelder in historischen Kontexten auf – ein Potenzial, das nicht nur in der Translationswissenschaft, sondern auch in den Geschichtswissenschaften generell von Relevanz sein könnte.

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Abb. 1: Das Titelblatt des Reichsgesetzblattes in deutscher und slowenischer Sprache (Quelle: ALEX/Österreichische Nationalbibliothek)

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