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Der große Traum von der Zivilisierung des Krieges
ОглавлениеDas Ende des Kalten Krieges und besonders die Anschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten markierten den Anfang einer neuen Welle von Interventionen der Großmächte auf der Welt. Der Krieg im Irak hat gezeigt, in welchem Maße die Frage nach der »Aggression« aktuell geblieben ist; doch es lässt sich auch nicht leugnen, dass die Aufmerksamkeit vor allem der Folterfrage, dem Internierungslager Guantánamo und dem Einsatz von Drohnen galt (im Allgemeinen wegen der dadurch verursachten Schädigung von Zivilist*innen): Der Übergang vom ius ad bellum zum ius in bello ist tatsächlich vollzogen. Aufgrund seiner Unterscheidung zwischen den Bürgerkriegen und den zwischenstaatlichen Kriegen fehlten dem ius in bello die Mittel zur Reglementierung von Konflikten zwischen Großmächten und nichtstaatlichen Akteuren, was seine Verfechter*innen entsprechend vor tiefgreifende Dilemmata stellte. Diesem Umstand sowie offenkundigen Verstößen zum Trotz haben sich die Bemühungen um einen juristischen Rahmen für Aufstandsbekämpfungsoperationen als erstaunlich effizient erwiesen, insofern die Armeen infolge der Dekolonisation und des Vietnamkrieges gelernt haben, die Verpflichtungen ihrer Regierungen ernst zu nehmen. Niemand kann bezweifeln, dass die Kriege nach dem 11. September zumindest im Vergleich zu früheren Konflikten stärker reguliert waren.
Doch dieser Sieg ist, soweit es das Kriegsrecht betrifft, kein ungetrübter. Die Träume vom dauerhaften Frieden und von der Reglementierung der Gewaltanwendung scheinen unerreichbarer denn je. Dem internationalen Strafrecht im Bereich der Kriegsverbrechen wurde fraglos neues Leben eingehaucht, es legt seinen Fokus aber auf Gräueltaten, insbesondere genozidale Gewalt, und auf sexualisierte Gewalt, die vom Kriegsrecht zuvor ignoriert worden waren. Indem es den Angriffskrieg und das ius ad bellum vernachlässigt, wendet sich das neue internationale Strafrecht vom Erbe der Nürnberger Prozesse ab. Der Begriff »Aggression« hat bei Bürgerkriegen wie dem in Bosnien oder dem in Ruanda nicht dieselbe Bedeutung: Zudem wurde er in das Römische Statut, mit dem der Internationale Strafgerichtshof geschaffen wurde, nicht aufgenommen, auch wenn er in der Folge regelmäßig wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. In den 1960er Jahren wurde das Feld des ius in bello in »humanitäres Völkerrecht« umbenannt; der Traum Dunants, den Krieg zu »zivilisieren«, war seiner Realisierung nie näher.
Verbunden mit dem Fortschritt und der zunehmenden Akzeptanz der Verhaltensregeln für Kampfhandlungen haben der Rückgang der Anschuldigung von Verletzungen der territorialen Integrität der Staaten und ihrer politischen Unabhängigkeit sowie die ernsthaften Argumente zugunsten humanitärer Interventionen zu einem Resultat geführt, das Tolstoi hätte vorhersagen können.
Samuel Moyn ist Professor an der Yale Law School und am historischen Institut der Yale University. Er forscht zur europäischen Geistesgeschichte und zu Menschenrechten und ist Autor des Klassikers The Last Utopia. Human Rights in History (Cambridge 2010) sowie von Not Enough. Human Rights in an Unequal World (Cambridge 2018).