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Die Rolle des Lehrwerks
ОглавлениеWenn die Kritische Pädagogik im Fremdsprachenunterricht sehr stark die biographisch und identitär wirksamen Probleme der Kinder und Jugendlichen vergegenständlichen soll, heißt das auch, dass sich die Bedürfnisse von Lernenden z.B. in Städten gegenüber ländlicheren Gegenden oder in bildungsbürgerlich geprägten Vierteln gegenüber „Brennpunkten“ deutlich unterscheiden. Lehrwerke vermögen diese Bandbreite an für die Lernenden relevanten Themen, die „localness“ (Akbari 2008: 280), gar nicht abzubilden. Stattdessen werden in Lehrwerken zielkulturelle Themen und Aspekte der Mittel- und Oberschicht abgebildet, die in Ansätzen teils auch interkulturell reflektiert werden (sollen), aber dennoch grundsätzlich immer durch von Lehrwerkautor*innen oder Lehrplänen relevant gesetzte Inhalte gefüllt werden: „Coursebook contents and teaching methods have been cautiously selected to make sure that only socially refined topics are addressed.“ (Akbari 2008: 278) Zudem ist in internationalen Englischlehrwerken ein Streamlining der Themen hin zur Vermeidung der PARSNIP-Konzepte zu beobachten (vgl. Gray 2002, gemeint sind: Politics, Alcohol, Religion, Sex, Narcotics, Isms wie Socialism oder Agnosticism und Pornography), obwohl gerade diese für Heranwachsende bedeutende Themen darstellen, die Sensibilisierung und Thematisierung bedürfen. Im Sammelband Gender and Language Learning (vgl. Elsner/Lohe 2016) machen die Herausgeberinnen deutlich, dass die individuell höchst bedeutsame Frage einer inklusiven Berücksichtigung des Titelthemas im Fremdsprachenunterricht weiterhin weitgehend vernachlässigt wird – auch von einschlägigen fremdsprachendidaktischen Einführungsbänden.
Ebenfalls können in didaktischer Hinsicht die sich ständig ändernden Begebenheiten und Einflüsse der Jugendlichen – mal ist es der Konsum von Pornovideos auf dem Schulhof, ein andermal Drogenprävention oder Konflikte mit anderen Schülerinnen und Schülern – einen deutlich wichtigeren Pool an (authentischen) Themen bieten im Vergleich zu kulturellen Aspekten Großbritanniens oder Frankreichs. Und gleichzeitig setze ich mich mit dieser Argumentation Kritik seitens kulturdidaktischer Vertreter*innen aus, die – durchaus nachvollziehbar – den Wert der Auseinandersetzung mit englischer, spanischer, französischer Literatur und Kultur herausstellen. Und ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich dies hier auch im Sinne von Bildung nicht in Abrede stellen möchte. Allerdings muss in der Folge der oben dargestellten theoretischen Bezüge auch im modernen Fremdsprachenunterricht eine stärkere Berücksichtigung kontextueller Faktoren Einzug halten, die es ermöglichen, soziale Aspekte der Lebensrealität der Lernenden zu integrieren (vgl. Gerlach/Leupold 2019). Möglicherweise werden diese im Verlauf eines Schuljahres auch einmal deutlich wichtiger als die zielsprachlichen Kulturen oder inter- bzw. transkulturelles Lernen, dann wiederum treten sie pendelartig wieder zurück. Vielleicht kann beispielsweise das Thema Armut oder Obdachlosigkeit anhand deutscher, möglicherweise regionaler Projekte diskutiert werden, ohne eine perspektivische Distanz mittels der Betrachtung von Armut in einem anderen (zielsprachlichen) Land zu schaffen (vgl. Akbari 2008). Diesen Freiraum muss und sollte es geben – auch curricular und per Stundentafel berücksichtigt.
Plikat (2018) stellt heraus, dass der Fremdsprachenunterricht Lernende selten auf kritische Fremdheitserfahrungen vorbereitet, dass aber – und er nimmt als theoretische Folie den Evolutionären Humanismus – dieser „es etwa ermöglichen [würde], rassistische Inhalte in Lehrbüchern zu kritisieren, da solche Inhalte für die betroffenen Menschen eine diskriminierende und leidvolle Erfahrung bedeuten“ (ebd.: 53). Wenn Lehrwerke weniger neutral-generische Themen, sondern emotional und problematisch aufgeladene behandeln, ergeben sich Reibungspunkte im Unterrichtsgeschehen: „If students can perceive the relevance of the examples to their own lives, they are more likely to be motivated to examine the language in which [the more extreme examples] are written.“ (Janks 1991: 193) Selbst wenn die eingesetzten Lehrwerke diese Aspekte noch nicht vorhalten, zeigt Osborn (2006), wie „normale“ Themen von einer kritischen Lehrkraft entsprechend problematisiert werden können: Im Sprechen über das Wetter, Häuser und deren Inneneinrichtung kann Obdachlosigkeit bzw. Privilegiertheit ein Thema sein, an das Wortfeld Essen und Einkaufen können sich Fragen nach Konsumverhalten oder sozioökonomischem Status anschließen. Gleichzeitig müsste überlegt werden, ob „kritische“ Themen wie z.B. Gewalt, Ideologie, Geschlecht und sexuelle Orientierung mittelfristig nicht im Allgemeinen präsenter werden sollten in Lehrwerken, stellen sie doch wichtige Kategorien in der Identitätsbildung Heranwachsender dar (vgl. Norton 2011). Jedoch: Auch vermeintlich gutgemeinte Lehrwerk-Charaktere, die einem breiten Diversitätsbegriff folgend multikulturelle und multisektionale Eigenschaften mitbringen, können wiederum mit einer kritischen Brille bezüglich ihrer Wirkung (und intendierten Zusammenstellung im Lehrwerk) mit Schülerinnen und Schülern diskutiert werden.
Wie Crookes (2013) überblicksartig zeigt, gibt es international einige Beispiele für kritische Fremdsprachenlehrwerke, die jedoch nicht selten auf die Initiativen einzelner Lehrerinnen und Lehrer unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen zurückgehen und dabei in der Regel nicht von größeren Verlagshäusern vertrieben werden.