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1. Einleitung
ОглавлениеUngerechtigkeit reproduziert sich selbst. In keinem anderen entwickelten Land ist der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern derart abhängig von sozioökonomischen Faktoren wie in Deutschland (vgl. OECD 2016). Zu viele Kinder und Jugendliche in diesem Land gelten als benachteiligt und können so ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Dies setzt sich fort: Wie sollen diese jungen Erwachsenen dann aufgrund mangelhafter Schulbildung – auch mangels eines Bewusstseins ihres Status – eine individuelle Veränderung in ihrem Leben bewirken? Wie ist es möglich, dass in einem derart hochentwickelten Land wie Deutschland 6,8 Millionen erwachsene Menschen trotz Schulpflicht nur gering literalisiert sind (vgl. Grotlüschen et al. 2019), vor einigen Jahren gar noch als „funktionale Analphabeten“ bezeichnet wurden (vgl. Grotlüschen/Riekmann 2012), damit basal-schriftsprachliche Fertigkeiten in ihrem Alltagsleben nicht erfüllen und damit nicht an einer durch Lesen und Schreiben dominierten Gesellschaft teilhaben können?
Was wäre, wenn Schule und Bildung grundsätzlich auf den Abbau dieser Ungerechtigkeiten fokussieren würden? Was wäre, wenn die Fächer basal-schriftsprachliche Schwerpunkte stärker berücksichtigen und damit diese Teilhabe wieder ermöglichen? Und was wäre, wenn der Fremdsprachenunterricht mit seinem ihm genuinen Gegenstand – der Fremdheit von Sprache – Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein darüber vermittelt, dass Sprache Macht ist und Sprache machtvoll machen kann, dass Sprache Ungleichheit konstruieren, diese aber auch relativieren kann, dass Sprache diskriminieren kann, aber auch davon erlösen kann?
Es scheint gleichsam, als entdecke die internationale Fremdsprachenforschung Grundansichten der Pädagogik, insbesondere der Kritischen Pädagogik, wieder. Man mag diese Wende an zwei Entwicklungen festmachen: Zum einen am social turn in der Angewandten Sprachwissenschaft z.B. auch mit den Arbeiten von Bonny Norton (2000) und – damit eng verbunden – der veränderten Positionierung von Lernenden als Identitäten, die ein investment im Sprachenlernen für sich nutzen (vgl. auch Norton 2011, Bonnet 2018). Die Hinwendung zu einer stärker pädagogisch orientierten Fremdsprachenunterrichtspraxis geht zudem im Besonderen zurück auf die 1999 erschienene Schwerpunktausgabe des TESOL Journal, in dem u.a. Alastair Pennycook (1999) sich für die Berücksichtigung kritischer Ansätze und transformatorischer Bildung im Englisch-als-Zweitsprache-Unterricht ausgesprochen hat. In der Folge ist in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich eine Vielzahl fremdsprachendidaktischer Publikationen erschienen – international primär zu Englisch als Fremd- oder Zweitsprache –, die sich gerade für die Stärkung dieses kritischen Elements einsetzen (z.B. Kumaravadivelu 1999/2006, Abednia 2012, Jeyaraj/Harland 2016, Banegas/Villacañas de Castro 2016). Besonders die ohnehin einem eher kritischen Diskurs verpflichteten Ramin Akbari (2008) sowie Graham Crookes (2009/2010/2013) haben in den vergangenen Jahren die Bedeutung der Kritischen Pädagogik und postmoderner Theorien für unterschiedliche, fremdsprachenunterrichtliche Kontexte herausgearbeitet. Während sie aufzeigen, dass die Begründungslinien für den Einsatz von Konstrukten wie der Kritischen Pädagogik (s.u.) in der Vergangenheit primär für erwachsene Fremdsprachenlernende bzw. Migranten und Migrantinnen in anderssprachigen (teils postkolonialen) Kontexten galt und diese ohne eine kritische Perspektive immer auch Subjekte von Benachteiligung waren, betont Crookes (2009) beispielsweise die Notwendigkeit der Disziplin, ein kritisches Bewusstsein im Fremdsprachenunterricht zu fördern. Und zuletzt hat – wieder Pennycook (2018) – unter einer posthumanistischen Brille die Angewandte Linguistik danach befragt, „what it means to be human“ (ebd.: 445).
Nun sollen ihre Überlegungen zu den dahinterliegenden theoretischen Konstrukten und ihre praktischen Implikationen in diesem Beitrag und Sammelband für den deutschsprachigen Kontext ebenso kritisch beleuchtet werden. Es ist die Frage danach, wie Fremdsprachenunterricht ein kritisches, pädagogisches Element dynamisch in seine Didaktik integrieren und methodisch umsetzen kann. Es geht – unter anderem – um das Thematisieren und Erkennen von machttheoretischen Zusammenhängen, den Abbau von Vorurteilen, Bildung für soziale Gerechtigkeit und Demokratieerziehung.
Ziel dieses einleitenden Beitrags soll es daher sein, die folgenden Fragen zu beantworten:
1 Welche theoretischen Konzepte und Annahmen können hinter einer Kritischen Fremdsprachendidaktik stehen?
2 Welches Potenzial haben aktuell dominierende kritische Konzeptionen und Theorien für die Fremdsprachendidaktik?
3 Welche methodisch-didaktischen Implikationen haben diese Konzepte und Annahmen für den Fremdsprachenunterricht, seine Gegenstände, Materialien und Durchführung?
Laurenz Volkmann (2010) hinterfragt bereits, ob die Kritische Pädagogik als weitere Baustelle nicht eher den Hochschulbereich angehe, den schulischen Fremdsprachenunterricht jedoch überfrachten könnte neben allen anderen Forderungen von der Förderung der funktional-kommunikativen Kompetenzen bis hin zum inter- und transkulturellen Lernen: „Wie ‚dekonstruktivistisch‘ im ursprünglichen Wortsinn, also wie ‚auseinandernehmend‘ oder gar alte Wahrheiten destruierend darf der Fremdsprachenunterricht sein?“ (ebd.: 15) Meine eigene Argumentation soll bereits in dieser Einleitung beginnen mit einem Mutmachen: „Heute umso mehr!“ Durch soziale und politische Verschiebungen dies- und jenseits des Atlantiks, globale und lokale Herausforderungen, die vielbeschriene Politikverdrossenheit, die sich zudem in Wahlen von Extremen äußern, darf die Förderung und Emanzipierung kritischer Bürgerinnen und Bürger – und hier vor allem auch system- und institutionenkritischer Heranwachsender – nicht nur Aufgabe von Hochschulen während des Studiums sein. Die Grundlagen dafür müssen bereits im schulischen Unterricht über das Herstellen einer kritischen Diskursfähigkeit angelegt werden, gerade vor dem Hintergrund einer offenbar wachsenden politisch-sozialen Bewusstheit junger Menschen und ihrem gestiegenen Interesse, sich gesellschaftlich zu engagieren (Stichwort: Fridays for Future).
Jeder Diskurs oder allein die Auseinandersetzung mit ihm kann dabei – manchmal auf kaum vorhersehbare Weise – für einzelne Lernende sozial relevant sein und eine politische und machtbezogene Dimension erhalten. Eine der zentralen Aufgaben der Schule besteht nun darin, Lernende an Diskurse und Praktiken heranzuführen und ihnen hierdurch die Teilhabe an ihnen – das heißt auch: die Teilhabe an der Gesellschaft – zu ermöglichen. (Fäcke et al. 2017: 5)
Der Fremdsprachenunterricht mit seinen Ansätzen und Unterrichtsgegenständen, den Zielen und Kompetenzen kann hier bedeutende Impulse liefern, die möglicherweise zunächst insbesondere über lehrer*innenbildende Institutionen in die Schulen hineingetragen werden könnten (vgl. z.B. Abednia 2012 und Gerlach/Fasching-Varner in diesem Band).