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Einleitung
ОглавлениеRahel Beyer / Albrecht Plewnia
Das vorliegende Buch bildet den Abschluss einer Handbuchserie zu Sprachminderheitenkonstellationen unter Beteiligung des Deutschen. Ihren Anfang nahm die Serie 1996 mit einem Band zur Situation der Sprachminderheiten in Mitteleuropa (Hinderling/Eichinger 1996b). Dieser Band, der noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs konzipiert worden war, war bald vergriffen. Es folgten weitere Bände zu anderen Regionen der Welt, die sich von der Struktur her an dem Mitteleuropa-Band orientierten: zunächst die Länder Mittel- und Osteuropas (Eichinger/Plewnia/Riehl 2008), sodann die deutschen Sprachminderheiten in Übersee (Plewnia/Riehl 2018). Das Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa (Beyer/Plewnia 2019) war der erste Band einer vollständigen Neufassung des Handbuchs von 1996, wo über die Dichotomie von Mehrheit und Minderheit hinaus auch weitere Ausprägungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit berücksichtigt wurden.
Das Anliegen jeden Bandes dieser Serie sowie des vorliegenden war und ist zweiteilig: Zum einen geht es – einem Handbuch entsprechend – um die Bereitstellung von geordneten Informationen, so dass Interessierte Erläuterungen zu bestimmten Stichworten nachschlagen und sich auf diese Weise relativ schnell einen Überblick verschaffen können – sei es zu einer bestimmten Minderheit oder einem spezifischen Aspekt einer bestimmten Minderheit. Zum anderen soll die Zusammenstellung der Artikel bzw. Sprachminderheiten eine vergleichende Betrachtung ermöglichen und wiederkehrende Muster/Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede/Besonderheiten zu Tage treten lassen.
Die Idee eines vergleichenden Blicks auf Sprachminderheiten unter Beteiligung des Deutschen geht zurück bis in die 1980er Jahre. Damals wurden im Rahmen zweier Projekte zunächst die „Methodik von Beschreibung und Vergleich der sprachlichen und sprachenrechtlichen Situation von Minderheiten“ anhand von zwei Minderheitenszenarien getestet und in einem zweiten Schritt auf weitere Gemeinschaften übertragen. Das Ziel wurde damals folgendermaßen formuliert:
Es geht darum, unterschiedliche Sprachgemeinschaften, die oft sonst in jeder Hinsicht verschieden sind, aber eben alle als Sprachminderheiten charakterisiert werden können, nebeneinanderzustellen und aus dieser Nebeneinander- und Gegenüberstellung wenn möglich zu lernen. (Hinderling/Eichinger 1996a: X)
Ergebnis des zweiten Projekts war das „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“ (Hinderling/Eichinger 1996b), bei dem deutsche Minderheiten und anderssprachige Minderheiten in deutschsprachigem Mehrheitsgebiet vergleichend gegenübergestellt wurden – eben der eingangs erwähnte Ausgangspunkt der Serie.
Mit dem vorliegenden, letzten Band der Reihe wird nun eine Perspektivenumkehr vorgenommen: Beschrieben werden Charakter und soziolinguistische Situation von Gemeinschaften, die sich im deutschen Diasystem befinden und für die Deutsch Mehrheitssprache ist. Dabei beschränken wir uns auf Deutschland. Mit der sprachlich-geographischen Verortung ist im Wesentlichen auch schon das verbindende Element genannt. Wenn schon die Sprachminderheiten in den vorhergehenden Bänden recht unterschiedlich waren, so gilt dies umso mehr für die in diesem Buch versammelten Situationen. Auf kleinste gemeinsame Nenner gebracht lassen sich auf einer Makroebene drei dominante Grundtypen von Sprachminderheiten ansetzen:
(1) Zunächst die autochthonen Gruppen, die sich durch Altansässigkeit in dem Gebiet, das heute die Bundesrepublik Deutschland konstituiert, auszeichnen. Schon zur Zeit der Staatsgründung lebten in bestimmten Gegenden Gruppen von Menschen mit einer anderen Kultur, einer anderen Tradition und eben anderen Sprachen. Im Zuge der Staatenbildung und der staatenweiten Vereinheitlichung auf sprachlicher Ebene erfuhren diese Sprecher im Vergleich zu jenen der Mehrheitssprache teils starke Benachteiligungen. Sie oder mindestens ihre Sprache wurden unter der vorherrschenden Einsprachigkeitsideologie an den soziopolitischen Rand gedrängt; das ist ein Prozess, der sich praktisch überall in Europa beobachten ließ. Etwa seit den 1970er Jahren gibt es auf europäischer Ebene eine wachsende Aufmerksamkeit für diese autochthonen Minderheiten. Ergebnis der weitreichenden Diskussionen sind eine Reihe von Erklärungen und Abkommen, die die kulturelle und sprachliche Identität der Minderheiten schützen sollen. Das bis heute wichtigste Dokument ist dabei die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen von 1992. Mit ihrer Unterzeichnung gehen Staaten die Verpflichtung ein, die von ihnen anerkannten Minderheiten zu fördern. Für ihr Staatsgebiet hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung Dänisch, Friesisch (Nord- und Saterfriesisch), Sorbisch und Romanes als Minderheitensprachen im Sinne der Charta bestimmt. Das Niederdeutsche hat den Status einer Regionalsprache.
(2) Einen zweiten Typ von Sprachminderheit – der europaweit einzigartig ist – stellen die sogenannten Aussiedler und Spätaussiedler dar. Dabei handelt es sich um Personen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den (ehemaligen) deutschen Ostgebieten lebten und die seit den 1950er Jahren in die Bundesrepublik übersiedelten. Sie sind also deutscher Abstammung und haben zumindest teilweise noch deutsche Erziehung und Kultur vermittelt bekommen; gleichzeitig kommen sie von einem Gebiet außerhalb der heutigen Staatsgrenze und verwenden in ihrem Alltag häufig Russisch oder Polnisch. Ihr spezifischer Status spiegelt sich auch in ihrer rechtlichen Stellung wider: Über die Regelungen im Bundesvertriebenengesetz bzw. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz verfügen sie über einen sicheren Aufnahme- und Aufenthaltsstatus inklusive Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit. Da sie Deutsche sind, werden sie von der Politik auch nicht als Sprecher einer Minderheitensprache betrachtet; entsprechend gibt es – im Gegensatz zu den autochthonen Minderheits- und Regionalsprachen – keinerlei rechtlichen Schutz- und/oder Förderungsbestimmungen für ihre (nicht-deutschen) Sprachen.
(3) Der politische Sprachminderheitsdiskurs, wie er sich auch in der Charta manifestiert, ist überwiegend auf die autochthonen Minderheiten fokussiert. Eine relevante Gruppe bilden jedoch, drittens, Personen und Gemeinschaften mit einer gebietsfremden sozialen Herkunft oder Abstammung, d.h. die migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten, die zudem meist eine andere Staatsangehörigkeit mitbringen. Diese sind jedoch weder als Minderheit anerkannt, noch bestehen für sie Förderungsmaßnahmen – im Gegenteil: Ihre Mehrsprachigkeit wird hauptsächlich als Problem wahrgenommen (Extra/Gorter 2007: 23). In den letzten einhundert Jahren sind durch mehrere Migrationswellen Sprecher vieler verschiedener Sprachen nach Deutschland gekommen. Für das Handbuch musste hier aus praktischen Gründen recht restriktiv ausgewählt werden. Auch wenn es noch keine zufriedenstellende und erst recht keine rechtsgültige Definition von Minderheit gibt, ist klar, dass nicht jede anderssprachige Personengruppe eine Minderheit im Sinne einer Sprachgemeinschaft bildet. „Minderheiten bilden diese Migranten […] nur, wenn sie in Gruppen organisiert auftreten“ (Rindler Schjerve 2004: 482). Neben den objektiv beobachtbaren Faktoren – wie zahlenmäßig geringer Umfang und (politische) Dominiertheit von der Mehrheitsgesellschaft – werden also weitere, v.a. subjektive Faktoren bedeutsam, die dann wiederum in objektiven Elementen (mehr oder weniger) sichtbar werden. So ist typischerweise die Differenz bzw. die Abstammung zentrales Merkmal der Identität und die Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sowie für die Herausbildung einer sozialen Organisationsform (Rindler Schjerve 2004: 484). Gemeinsames Ziel ist die Pflege von Kultur, Brauchtum und Traditionen, die die Gruppenmitglieder auch über Verwandtschaften hinaus in gemeinsame Interaktion treten lässt. Nur Gemeinschaften mit diesen Merkmalen können in unserem Zusammenhang relevant sein. Aber auch deren Anzahl übersteigt den verfügbaren Platz. Als mögliche Orientierung für die engere Auswahl bieten sich nun Typen der Migration an. Mutmaßlich am verbreitetsten sind als überindividuelle Phänomene die Arbeitsmigration sowie ganz aktuell die Fluchtmigration.1 Letztere hat in Deutschland v.a. ab 2014 erheblich an Bedeutung gewonnen, als der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien eine Flüchtlingswelle auslöste. Schätzungen zufolge kamen 2015 etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland, bei denen Arabisch als (einzige) Erstsprache vorherrschte (Hünlich et al. 2018: 18f.) – eine durchaus beachtliche Zahl. Die Konturen dieser Gruppe und ihrer soziolinguistischen Realitäten sind zurzeit jedoch nicht recht erkennbar, und ihre Erforschung steht noch ganz am Anfang. Dementsprechend konnten sie im vorliegenden Handbuch noch nicht berücksichtigt werden. Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme blickt in Deutschland dagegen schon auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert v.a. Polen, die im Ruhrgebiet in der Schwerindustrie und im Bergbau eingestellt wurden, kamen die ab 1955 angeworbenen „Gastarbeiter“ vorwiegend aus dem südeuropäischen Raum. Die größte Gruppe der als Folge von Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten in Deutschland bilden dabei die Türkischstämmigen bzw. Türkeistämmigen, inzwischen in zweiter und dritter Generation.
Das vorliegende Handbuch umfasst zehn Beiträge. Diese erläutern zunächst nacheinander die fünf – bzw., wenn man Nordfriesisch und Saterfrisisch getrennt zählt, sechs; wenn man Obersorbisch und Niedersorbisch getrennt zählt, sieben – chartageschützen Sprachen Deutschlands. (1) Dänisch in Schleswig-Holstein als Grenzminderheit ist dabei der einzige Fall, der insofern eine Symmetrie aufweist, als es jenseits der Grenzen den genauen Gegenfall (also Deutsch als Minderheitssprache in Dänemark) gibt. Die historisch-autochthone dänische Minderheit in Schleswig-Holstein umfasst zirka 50.000 Personen; sie ist von der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich anerkannt. Die Mitglieder der Minderheit sind in der Regel mehrsprachig. Häufig ist Deutsch die Erstsprache und Südschleswigdänisch, eine durch Sprachkontakt geprägte Form des Dänischen, Zweitsprache oder weitere Erstsprache; daneben wird ggf. das Standarddänische Dänemarks und gelegentlich Niederdeutsch und/oder Friesisch gesprochen. Der Status des Dänischen in der Minderheit ist variabel. Während in der privaten Alltagskommunikation häufig Deutsch bevorzugt wird, hat die Beherrschung des Dänischen hohe Relevanz auf Entscheidungs- und Leitungsebenen. Für die fortgesetzte ökonomische Unterstützung aus Dänemark spielen seine Bewahrung und Förderung eine zentrale Rolle.
(2) Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben. Ihre Sprecher verteilen sich auf drei nicht (mehr) zusammenhängende Gebiete im Nordseeraum, von denen zwei in Deutschland liegen: Zum einen im schleswig-holsteinischen Kreis Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland, wo es in einer ausgeprägten Mehrsprachigkeitssituation unter Beteiligung des Friesischen, Niederdeutschen, Hochdeutschen, Jütischen wie Dänischen steht bzw. stand. Die Herausforderungen für das Nordfriesische liegen sowohl in der großen Dialektvielfalt, durch die nur selten eine gegenseitige Verständlichkeit gegeben ist, als auch im Fehlen eines schlüssigen, stringenten Konzepts für die Spracharbeit: Bei den zahlreichen Aktivitäten, Strukturen und Rechtsinstrumenten zur Förderung des Friesischen „stellt sich jetzt [die Frage], inwiefern diese Maßnahmen, insbesondere die Strukturen, effektiv sind“ (Walker, in diesem Band) und wie der vorhandene Sachverstand sinnvoll gebündelt werden kann.
(3) Zum anderen ist Friesisch in der Gemeinde Saterland im Nordwesten Niedersachsens zu finden. Das dortige Saterfriesisch ist die letzte noch gesprochene Varietät des Ostfriesischen; sie kam erst ab zirka dem 11. Jahrhundert durch emsfriesische Einwanderer in das ursprünglich sächsisch besiedelte Gebiet. Erst seit den 1980er Jahren gibt es in der Bevölkerung ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass es sich beim Saterfriesischen um eine Ausprägung des Friesischen – und nicht des Niederdeutschen – handelt. Durch Zuzug Plattdeutsch sprechender Kolonisten aus der Umgebung im 19. Jahrhundert und Zuzug v.a. aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die Saterfriesischsprecher nur noch eine Minderheit der Gesamtbevölkerung mit einem eingeschränkten Kommunikationsraum dar. Umso gewichtiger wird die Rolle der schulischen Bildung als „wohl die beste[…] Möglichkeit[…], die Gebrauchsdomänen für das Saterfriesische zu erweitern“ (Peters, in diesem Band).
(4) Im Mittelalter bzw. in der Hansezeit als Sprache voll umfänglich ausgebaut und verwendet, wurde das Niederdeutsche als Folge des Schreibsprachwechsels der norddeutschen Städte zum Hochdeutschen soziolinguistisch zu einem Dialekt heruntergestuft. „Damit einher gingen niedrige Prestigewerte und eine weitgehende Unbesetztheit von Feldern der öffentlichen Kommunikation“ (Goltz/Kleene, in diesem Band). Mit der Aufnahme des Niederdeutschen als Regionalsprache in das deutsche Ratifizierungsdokument der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen begann ein Prozess der Umbewertung zugunsten eines kulturellen Wert- und Identitätsfaktors. Zudem zeigen aktuelle Umfragen ein in den letzten zehn Jahren gleichgebliebenes Kompetenzniveau unter den Sprechern. Dennoch bergen die nur zu einem sehr geringen Teil in der Familie stattfindende Weitergabe und die im Alltag fehlende Notwendigkeit, Plattdeutsch zu können, ein gewisses Gefährdungspotenzial.
(5) Auch die Lausitzer Sorben hatten zu keinem Zeitpunkt der Geschichte einen eigenen Staat.
Nach vorherrschender Ansicht gibt es nur ein sorbisches Volk, das aber zwei Schriftsprachen hervorgebracht hat, die nieder- und die obersorbische […]. Es handelt sich um zwei eigenständige westslawische Sprachen mit jeweils spezifischer Dialektgrundlage, wobei die Sprachgrenze aufgrund des Vorliegens von Übergangsdialekten in der mittleren Lausitz nicht eindeutig festzulegen ist. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)
Auch in soziolinguistischer Hinsicht befinden sich Nieder- und Obersorben in unterschiedlichen Situationen: So ist der Großteil der Niedersorben im Laufe des 20. Jahrhunderts von deutsch-sorbischer Zweisprachigkeit zur deutschen Einsprachigkeit übergegangen. Das Kerngebiet des Sorbischen liegt in der Oberlausitz, wo die Obersorben leben. Dabei spielen auch die beiden unterschiedlichen Konfessionen eine große Rolle: Evangelische Regionen der Lausitz und deutschsprachige Region sind im Grunde deckungsgleich.
Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)
(6) Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, gilt als nicht territorial gebundene Sprache, d.h. als Sprache „die keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden [kann]“ (Europarat 1992: 2). Sie ist integraler Bestandteil der (gesamt-)europäischen Kultur; ihre Sprecher sahen sich v.a. in der Vergangenheit jedoch Marginalisierung, stereotypen Vorurteilen sowie Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Der seit ein paar Jahren stattfindende politische Emanzipationsprozess und die vermehrte Verwendung des Romanes auf internationaler Ebene durch Aktivisten bewirken nicht nur seine Aufwertung, sondern auch einen Funktions- und Strukturausbau. Eine Erforschung dieser Sprache mit indoarischen Wurzeln und starker Prägung durch die jeweiligen Kontaktsprachen erweist sich (v.a.) für Deutschland vor dem historischen Hintergrund als äußerst schwierig. Zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind die Aktivitäten
von sogenannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit […], um u.a. die familiären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen waren. (Halwachs, in diesem Band)
(7) Die russischsprachige Minderheit setzt sich aus verschiedenen Untergruppen zusammen. Die mit dem Russischen in Deutschland salienteste Verknüpfung besteht dabei wohl zu den (Spät-)Aussiedlern, den Nachfahren deutscher Siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Sie stellen mit zirka 2,3 Millionen Angehörigen auch die größte Untergruppe dar. Bei ihnen stellt sich neben der Frage nach dem Erhalt des Russischen auch die Frage nach dem Erhalt der sogenannten russlanddeutschen Dialekte, der Hauptvarietät der ältesten noch lebenden Generation.
Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikationssprache verwendet haben und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert haben. (Dück, in diesem Band)
Der (rechtliche) Sonderstatus und die negative Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft bzw. deren Kategorisierung als Russen wirken sich zudem destabilisierend auf die Identitätskonstruktion der (Spät-)Aussiedler aus.
(8) Stellvertretend für durch Arbeitsmigration entstandene Minderheiten im Allgemeinen und die Gruppe der Gastarbeiter im Speziellen – und unter den allochthonen Minderheiten numerisch am stärksten – wird in diesem Handbuch die Minderheit der Türkeistämmigen beschrieben. Auch hier gilt: Eine Gleichsetzung von türkischstämmigen (Nachkommen von) Gastarbeitern und Türkischsprechern ist verkürzend und unzulässig (so gibt es auch Migranten aus anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei, die auch Türkisch erworben haben, wie auch aus türkischen Minderheiten in Südosteuropa usw.), und doch ist genau diese Verbindung für die überwiegende Mehrzahl der Türkischsprecher zutreffend. Nachdem es sich nach Jahren der Rotation von „Gastarbeitern“ für die Industrie als sinnvoller erwies, eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte längerfristig zu halten, begannen diese „im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann“ (Cindark/Devran, in diesem Band). Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet, d.h. nicht nur von der ersten Generation der Migranten, sondern auch von den Nachfolgegenerationen; bei Letzteren lässt sich typischerweise viel deutsch-türkisches Code-Switching beobachten. Angesichts unter anderem der relativ stark ausgebildeten ethnischen Identität ist nicht davon auszugehen, dass die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland in naher Zukunft nachlassen wird.
(9) Für viele allochthone Minderheiten lassen sich mehrere Migrationsmotivationen finden, die zeitgleich zusammenfallen oder zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte relevant waren. Dies trifft zum Beispiel für die Sprecher des Polnischen in Deutschland zu. Hierbei handelt es sich um eine große, sehr heterogene Gruppe, die sich aus Nachkommen von Arbeitsmigranten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“), (Spät-)Aussiedlern (v.a. in den 1980er Jahren) und Arbeitsmigranten im Kontext der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit (seit 2011) zusammensetzt; hinzu kommt eine nennenswerte Individualmigration.
Dies wirkt sich direkt auf ihre sprachlichen Hintergründe und ihre Einstellungen zum Erhalt des Polnischen bzw. zum Erwerb des Deutschen aus. Neben der Vielfalt an sprachlichen Konstellationen hat diese Heterogenität auch Folgen für den internen Zusammenhalt der polnischsprachigen Bevölkerung in Deutschland: Die einzelnen Gruppierungen weisen keine engen Verbindungen auf, haben z.T. eigene Verbände und kulturelle Organisationen, die kaum miteinander vernetzt sind. (Brehmer/Mehlhorn, in diesem Band)
Letzteres dürfte auch zur faktischen „Unsichtbarkeit“ der Minderheit beitragen.
(10) Zu keinem der drei oben erläuterten Typen passt die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie unterscheidet sich als visuell-räumliche Sprache in ihrer Modalität sowohl von den anderen Minderheitensprachen als auch von der deutschen Lautsprache. Sie wird in Kommunikationssituationen mit Beteiligung von gehörlosen und hörgeschädigten Personen in Deutschland (und Luxemburg) verwendet. Auch wenn sich DGS-Verwender durchaus als sprachlich-kulturelle Minderheit wahrnehmen, ist ihre Sprache in Deutschland nicht als Minderheitensprache auf völkerrechtlicher Basis anerkannt. Rechtliche Anerkennung (als eigenständige Sprache) erfährt die DGS vielmehr nur über Paragraph 6 des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wie an dieser Verortung deutlich wird, haftet der DGS (wie Gebärdensprache an sich) nur allzu oft das Image eines zweckbedingten Hilfsmittels an, dass die gesprochene Sprache in Form von Gesten widergibt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive besteht jedoch kein Zweifel, dass Gebärdensprachen vollwertige natürliche Sprachen mit einem komplexen grammatikalischen System sind.
Alle beschriebenen Sprechergemeinschaften müssen sich gegenüber dem Deutschen als dominierende Mehrheitssprache behaupten. Dies liegt allerdings mehr an dessen „De-facto-Dominanz“ (Marten 2016: 147) als an dessen Festschreibung als Nationalsprache im Grundgesetz.2 Zwar gibt es einige nachgeordnete Gesetze, die den offiziellen Status bzw. die offizielle Funktion des Deutschen u.a. im Zusammenhang mit Behörden und Gerichten festlegen,3 insgesamt fehlt es in Deutschland jedoch an einer kohärenten Sprach(en)politik. Dies gilt auch für den Umgang mit den autochthonen Minderheitensprachen. Der Grund liegt u.a. in der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik. Das bedeutet, dass die einzelnen Länder über kulturelle Souveränität, d.h. über die primäre Kompetenz in Bezug auf die Gesetzgebung in den Bereichen Kultur und Bildung verfügen. Die meisten minderheitenspezifischen Gesetze finden sich in den Regelungen des jeweiligen Landes, in dem die Minderheit lebt. So hat der Schleswig-Holsteinische Landtag 2004 das sogenannte Friesischgesetz verabschiedet, das das Friesische und seine Verwendung zum Beispiel bei Behörden oder sein Erscheinen auf zweisprachigen Ortsschildern anerkennt. Letzten Endes den einzigen Kontext, in dem Deutschland als gesamter Staat in die Pflicht genommen wird, bildet die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Deutschland gehörte am 5. November 1992 zu den ersten Unterzeichnerstaaten dieses europäischen Vertrags. Die Ratifizierung erfolgte 1995; die Inkraftsetzung zum Januar 1999. Im Text werden zunächst Definitionen für den Anwendungsbereich der Charta gegeben: Demnach
bezeichnet der Ausdruck ‚Regional- oder Minderheitensprache‘ Sprachen, (i) die herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates, und (ii) die sich von der (den) Amtsprache(n) dieses Staates unterscheiden; er umfaßt weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern. (Europarat 1992: 2)
Weiterhin gibt es einen Teil mit allgemeiner gehaltenen Zielen und Grundsätzen, zu deren Anwendung sich die Vertragsparteien verpflichten. Unter Teil III führt die Charta eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen zur Förderung des Gebrauchs von Regional- oder Minderheitensprachen im öffentlichen Leben auf. Diese Maßnahmen betreffen Bildungswesen, Justiz, Verwaltungsbehörden und öffentliche Dienstleistungsbetriebe, Medien, kulturelle Tätigkeiten und Einrichtungen, wirtschaftliches und soziales Leben sowie grenzüberschreitenden Austausch. Bei der Ratifizierung des Dokuments müssen für jede als Regional- oder Minderheitensprache im Sinne der Charta anerkannte Sprache mindestens 35 Maßnahmen aus diesem Katalog angegeben werden, zu deren Anwendung sich der Unterzeichnerstaat verpflichtet. In regelmäßigen Abständen haben die Vertragsstaaten Berichte über die Anwendung der Charta vorzulegen, die von einem Sachverständigenausschuss kontrolliert werden; es fehlt allerdings jede Sanktionsmöglichkeit. Die Umsetzung der Fördermaßnahmen ist in Deutschland Sache der einzelnen Länder. Diese Fragmentierung wird bzw. die sich daraus ergebenden großen Unterschiede in der Umsetzung zwischen den einzelnen Bundesländern werden vom Sachverständigenausschuss immer kritisch kommentiert. Dies gilt insbesondere für das Niederdeutsche, dessen Schutz Angelegenheit von insgesamt acht Ländern ist. Der letzte Bericht des Sachverständigenausschusses von 2018 empfiehlt explizit „die Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu verbessern, in denen Niederdeutsch geschützt ist.“
Entsprechend der Einordnung in die erwähnte Handbuch-Serie orientiert sich auch die Gliederung dieses Bandes bzw. der Beiträge an den Vorgängerarbeiten. Pro Beitrag wird ein Gebiet überblicksartig beschrieben und dabei jeweils im Wesentlichen ein „gewisser Kernbestand an Problembereichen“ (Hinderling/Eichinger 1996: XII) behandelt. Die Beschreibungsdimensionen erstrecken sich von den historischen Entwicklungen über die aktuelle demographische und rechtliche Situation bis hin zur Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Wirtschaft, Politik und Kultur. Darüber hinaus wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der soziolinguistischen Situation inklusive eines kurzen Profils der Minderheitensprache, der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, der Spracheinstellungen der Sprecherinnen und Sprecher sowie des visuell realisierten Auftretens der Minderheitensprache im öffentlichen Raum (Linguistic Landscape) geboten.
Die Herausgeber sind allen Beteiligten zu großem Dank verpflichtet: zuvörderst den Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, einen Beitrag zu übernehmen, sich auf das vorgegebene Gliederungsschema einzulassen und es, wo nötig, zu adaptieren. Des Weiteren Norbert Cußler-Volz für die Erstellung einiger Karten im Band. Für die Erstellung der Druckvorlage und die umsichtige und sorgfältige Korrektur der Manuskripte sei Heike Kalitowksi-Ahrens und Julia Smičiklas gedankt. Dem Narr-Francke-Attempto-Verlag danken wir für die Aufnahme des Handbuchs ins Verlagsprogramm und insbesondere Tillmann Bub, der die Entstehung des Bandes ebenso wie die der Vorgängerbände mit freundlicher und unerschütterlicher Langmut betreut hat.