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Ins Abseits gedrängt

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Die PISA-Studie hat zumindest die politische Debatte über Jugendliche mit Migrationshintergrund verändert. Denn bis zur Veröffentlichung dieser Ergebnisse gab es kaum Zahlen über diese Schülergruppe. Sie wurde schlicht nicht explizit erfasst. Nichtsdestotrotz herrschte aber die gängige Meinung, die Ursache für ihr schlechtes Abschneiden wäre bei ihnen selbst zu suchen, zumal ihr familiärer und kultureller Hintergrund den Ansprüchen der hiesigen Bildungslandschaft nicht entspreche. Man war gar der Auffassung, dass ihr Hintergrund sie an ihrem Bildungserfolg hemmen würde, denn ihre Herkunftskultur und ihrer Muttersprache galten als rückständig. Selbst wissenschaftliche Erklärungen, die die unterschiedlichen Bildungserfolge von einheimischen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund untersuchten, stützten sich lange Jahre auf diese Erklärungsversuche. Und so waren die Schüler selbst gebrandmarkt und galten schlicht als bildungsunfähig.

Die Ergebnisse der PISA-Studien führten allerdings ein anderes Bild vor Augen: Das deutsche Bildungssystem ist selektiv und fängt schwächere Schüler nicht auf. So ist nicht primär der kulturelle Hintergrund, sondern vielmehr die Schichtzugehörigkeit entscheidend für einen erfolgreichen Bildungsabschluss. Die Schulen sind also nicht in der Lage, Kinder aus sozial schwächeren Familien entsprechend zu fördern und sie zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu begleiten. Zudem verdeutlichte der internationale Vergleich, dass in keinem anderen Land die soziale Schichtzugehörigkeit so eng mit dem Bildungserfolg verknüpft ist wie in Deutschland. Und Schüler mit Migrationshintergrund sind der PISA-Studie zufolge am stärksten von diesen Selektionsprozessen betroffen, denn ihre Leistungen weichen im OECD-Vergleich deutlich von Schülern ohne Migrationshintergrund ab.

Die Sozialisation der Jugendlichen wirkt sich dementsprechend direkt auf den jeweiligen Bildungserfolg aus. Außerdem zeigt der Vergleich, dass es allen voran den skandinavischen Ländern, deutlich besser gelingt, Schüler unterschiedlichster Herkünfte einzubinden.

Die Erziehungswissenschaftler Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke zeigen mit ihren Studien zusätzlich auf, dass die Schulstrukturen in Deutschland Schüler mit Migrationshintergrund sogar aktiv ins Abseits drängen. Dies zeigt sich bereits beim ersten Übergang vom Kindergarten in die Grundschule: Von den etwa 11 Prozent, die in Deutschland vor dem ersten Schulbesuch um ein Jahr zurückgestellt werden, machen den größten Teil Kinder mit Migrationshintergrund aus. Sie bekommen also öfter als deutsche Kinder eine sogenannte „Schulunreife“ attestiert.54 Insbesondere Schulen ohne separate Auffang- oder Förderklassen für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen greifen auf diese Maßnahme zurück. Mangelnde Deutschkenntnisse dienen hier als Signal für mögliche Probleme, die das Kind haben könnte. Eine der von den Bildungsforschern Gomolla und Ratcke interviewten Schulleiterinnen kommentierte diese Praxis mit der Aussage: „Mangelnde Sprachkenntnisse gehen oft Hand in Hand mit anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“55

Die Entscheidung, ein Kind einzuschulen oder zunächst in einen Schulkindergarten zu schicken, wird also aufgrund von Vermutungen entschieden. Die Verantwortlichen bedienen sich öffentlicher Vorurteilen und negativer Bildern aus den Medien und stellen sich so eine Umwelt vor, die den Kindern optimale Lernbedingungen verwehren. Hinzu kommen noch einzelne Kalküle der Schulen selbst, die aufgrund ihrer verfügbaren Kapazitäten entsprechende Entscheidungen treffen. Das heißt, neben der Selektion aufgrund der zur Verfügung stehenden Plätze für Schüler nach beispielsweise dem Wohnsitz in der jeweiligen Stadt stellen die Schulen ebenfalls interne Quoten für bestimmte Schülergruppen nach kulturellem Hintergrund auf, um keinen „Imageverlust“ zu erleiden oder ihre Attraktivität für „einheimische“ Schüler und Eltern zu verlieren. Für die Schüler bedeutet dies, dass sie bereits in jungen Jahren erfahren müssen, dass sie nicht der Norm entsprechen und – anders als Gleichaltrige – noch nicht „schulreif “ sind. Hierbei verzögert sich nicht einfach nur die Schullaufbahn, sondern es sind die ersten Erfahrungen mit institutioneller Ablehnung. Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade jene Kinder, die diese Form der Zurückweisung erlebt haben, im Verlauf ihrer Bildungskarriere zu den Leistungsschwächeren zählen werden.56 Und offenbar tritt genau das ein, wovor sie bewahrt werden sollten. Es bedarf keiner Statistik, um sich vorzustellen, was für Auswirkungen eine so frühe Erfahrung des „Versagens“ auf das Selbstbild der Kinder haben kann. Wie muss es sich wohl für ein Kind anfühlen, nicht das tun zu können, was die gleichaltrigen Freunde ganz selbstverständlich dürfen. Vor allem: Wie erklärt man den Freunden, warum man trotz Einschulung wieder im Schulkindergarten ist? Die Antworten, die Kinder dann geben müssen, machen Stigmatisierungserfahrungen nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich.

Doch nicht nur beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule laufen Mädchen und Jungen mit Zuwanderungsgeschichte Gefahr, von einem „regulären“ Schulverlauf abgedrängt zu werden. Auch wehrend der Grundschulphase sind sie deutlich häufiger von Überweisungen auf Förderschulen und dem Sitzenbleiben betroffen. Denn: Sowohl von Schülern mit als auch ohne Migrationshintergrund werden dieselben Leistungen erwartet. Wenn diese zum Zeitpunkt der Versetzungs- oder Übergangsentscheidung nicht bestehen, droht eine Klassenwiederholung oder gar die Überweisung auf die Förderschule. Dabei wird übersehen, dass Schüler mit einer anderen Herkunftssprache nicht nur das schulische Lernziel erreichen, sondern zugleich auch Deutsch als Zweitsprache erlernen müssen. Die Professorin Kerstin Merz-Atalik geht daher davon aus, dass diese Kinder oft sogar die doppelte Leistung erbringen müssen.57

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