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Ein Trichter mit gefährlich engem Hals

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Schaut man sich auch den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe an, so wird einmal mehr deutlich, wie selektiv das deutsche Bildungssystem ist. In der Bildungsforschung spricht man von einem „Bildungstrichter“, der mit jedem Bildungsübergang enger wird. Wehrend noch alle Kinder die Grundschule besuchen, wird bereits mit dem Eintritt in die Sekundarschule der Hals des Trichters zunehmend enger und lässt bis zum Studium nur eine Minderheit durch. Doch der Trichter ist nicht für alle Gruppen gleich eng. So besuchen Jugendliche mit Migrationshintergrund Hauptschulen doppelt so häufig wie deutsche Kinder.58 Und schließen daher auch öfter als andere Gleichaltrige mit einem Hauptschulabschluss ab, für 4,4 Prozent endet die Schulkarriere sogar ohne Abschluss.59

Auf Realschulen und Gymnasien ist diese Schülergruppe kaum anzutreffen.60 Denn die Empfehlung für diese Schultypen erhalten Schüler mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten eher selten. Die Begründung: Perfekte Deutschkenntnisse seien für einen Schulerfolg auf dem Gymnasium unerlässlich und an den Sekundarschulen mangele es an Sprachfördermöglichkeiten.61 Hier geht man bewusst davon aus, dass selbst bei guten Leistungen die Zweisprachigkeit der Schüler bei einem Gymnasialbesuch hinderlich sein werde. Um die Kinder vor diesen „negativen Erfahrungen“ zu „bewahren“, wie Lehrer aus Nordrhein-Westfalen in einer Studie von Gomolla und Radke angaben, werden die Übertrittsempfehlungen seltener ausgestellt als bei deutschen Schülern. Dass dieser Fall selbst dann eintritt, wenn beide Schülergruppen dieselben Noten und die gleiche soziale Herkunft aufweisen, konnten mehrere Studien bereits anschaulich belegen.62 Man nimmt außerdem an, dass die Eltern der Kinder mit Migrationshintergrund nicht in der Lage sind, ihre Kinder entsprechend zu unterstützen, so dass hier Vorurteile die Entscheidungen der Lehrer bestärken. Entscheidungen werden auch strategisch umgangen, indem die Gesamtschule von vorneherein als die Schule für Kinder mit Migrationshintergrund dargestellt wird.

Es wird also mit zweierlei Maß gemessen. Denn man übersieht systematisch, dass gerade Kinder aus einem anderssprachigen Haushalt wesentlich mehr leisten müssen, um dieselben Noten wie ihre muttersprachlichen Mitschüler zu erlangen. Denn Sachverhalte nicht in der Erstsprache aufzunehmen und darin zu arbeiten, erfordert hohe Anstrengung. Diese hohe Leistungsbereitschaft verwundert dabei nicht, denn Schüler mit Migrationshintergrund weisen, so wissen wir seit PISA, neben einer höheren Lernmotivation auch einen stärkeren Bildungswunsch auf als Nichtmigranten.63 Umso erschreckender ist die Tatsache, dass ihr Bildungsweg von Anfang an einem Wettrennen gleicht, bei dem schon vor Beginn feststeht, wer der Verlierer sein wird.

Gerade die Forderung nach „perfekten Deutschkenntnissen“ der Gymnasien ist höchst problematisch. Denn was genau versteht man unter „perfekten“ Deutschkenntnissen? Hier besteht die Gefahr, vor allem aufgrund des Migrationshintergrundes auszusieben. Denn wehrend beispielsweise Schülern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche „bei angemessener Gesamtleistung“64 der Gymnasialbesuch ermöglicht werden soll, werden – vorhandene oder angenommene – Sprachprobleme bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte als Hindernis betrachtet. Dabei verliert man auch aus dem Blick, dass Rechtschreib- und Grammatikfehler deutschen Schülern ebenso unterlaufen können wie Schülern mit einem Migrationshintergrund. In diesem Fall würde jedoch kaum jemand sprachliche Mängel aufgrund der Herkunft attestieren.

Eines ist deutlich: Die fehlenden Sprachkenntnisse finden sich als Erklärungsmuster bei allen Übergengen vom Kindergarten bis zum Übergang in die Sekundarstufe I oder II wieder. Obwohl uns PISA eines besseren belehrt hat, werden ungleiche Bildungschancen selbst in der Wissenschaft noch immer als Folge fehlender Sprachkompetenzen von Migranten betrachtet und somit die Ursache vor allem bei ihnen und nicht im System gesucht.65

Deutschland muss endlich aktiv anfangen, sich als Einwanderungsland zu verstehen, denn das ist es bereits seit Jahrzehnten. So gehört der Umgang mit Mehrsprachigkeit und deren Vermittlung zu den Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft stellen muss, um Minderheiten sprachlich auf den Alltag in Schule und Beruf vorzubereiten und vor allem auch, um ihre soziale Integration zu unterstützen.

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