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Der Türkischunterricht war zu Beginn meine Nische

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Ich wurde 1993 in einem kleinen südhessischen Ort mit circa 10.000 Einwohnern eingeschult. Beim wöchentlichen Gebet in meiner Grundschule wurde meinen Mitschülern beispielsweise nie erklärt, weswegen ich beim Beten nicht – wie alle anderen – die Hände faltete. Dies förderte das Gefühl der Andersartigkeit bei mir und bei meinen Mitschülern zugleich. Trotz allem ging ich gerne in die Schule! Die Besonderheit meiner Grundschule war, dass ich seit der 1. Klasse Türkischunterricht hatte, wenn meine Klassenkameraden im Religionsunterricht saßen. Neben türkischer Grammatik, Geschichte und Geographie besprachen wir hier auch Probleme genereller Natur – also Probleme, die nicht unmittelbar mit dem Türkischunterricht zu tun hatten. Rückblickend denke ich, dass hier der Ort war, an dem die Integration maßgeblich stattfand. Denn unsere Türkischlehrerin konnte sich viel besser durchsetzen als ihre deutschen Kollegen. Wenn ich türkische Lehrer mit ihren deutschen Kollegen vergleiche, so fällt auf, dass erstere gegenüber der türkischen Schülerschaft eine höhere Durchsetzungskraft haben. Ich meine, dass dies daran liegt, dass türkische Lehrer über eine gewisse Autorität gegenüber Schülern verfügen und auch Respekt bekommen. Dies kommt durch die Identifikation zwischen der Schülerschaft mit der Lehrkraft zustande. Da meine Mutter erst 1980, nach der Hochzeit meiner Eltern, aus der Türkei nach Deutschland kam und mir die türkische Kultur vertrauter war, war der Türkischunterricht vorerst die Nische, in der ich mich verstanden und wohl fühlte. Gut erinnere ich mich daran, dass unsere Türkischlehrerin auch zu Elternabenden eingeladen wurde und dort die Rolle der eingebetteten Mittlerin zwischen den Lehrern und den Eltern übernahm. Zudem stand sie ohnehin im ständigen Kontakt zu den Eltern der türkischen Schüler. Probleme wurden auf diese Weise frühzeitig erkannt und schnell angegangen. Es war außerdem hier, im Türkischunterricht, wo ich bis zur 10. Klasse lernte, mein Selbstbewusstsein zu steigern. Dies geschah vornehmlich dadurch, dass ich ein Selbstverständnis für meinen Ursprung entwickelte. Einblicke in das gesellschaftliche Leben in der Türkei und die damit verbundenen kulturellen Praktiken, die religiösen Feiertage des Islam oder das säkulare Verständnis der Türkei lehrten mich, dass meine Herkunft mit meinem Leben in Deutschland vereinbar war. Auf diese Weise konnte ich der sein, der ich tatsächlich war und bin.

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