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Glauben kann eben doch Berge versetzen

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Aber einmal ernsthaft gefragt: Wo kommen wir denn hin? Wo landen wir, wenn wir die Humboldtsche Idee beiseite schieben und dem Glück wieder seinen Raum geben? Denn fragt man Hirnforscher, so schreiben auch sie der Lust einen großen Stellenwert beim Lernen zu und bemängeln, dass neue Erkenntnisse der Emotions- und Motivationspsychologie kaum in die Pädagogik oder Didaktik einfließen.

So macht der Neurobiologe Gerald Hüther deutlich, dass Menschen nicht nur einfach Sachverhalte lernen, sondern die Lernsituation an sich stets mit einfließt. Lernen Jugendliche also unter Angst und Druck, wird dieses negative Gefühl mit dem zu lernenden Thema oder gar dem Fach verknüpft.84 Und nicht nur das. Es ist sogar neurologisch bewiesen, dass Menschen unter Angst schlechter lernen. Denn in diesem Gefühlszustand schaltet das Gehirn in einen Modus, in dem es sich darauf konzentriert, der Quelle der Angst zu entkommen. Jegliche Kreativität wird dadurch völlig eingeschränkt. Der bekannte Gehirn- und Lernexperte Manfred Spitzer betont in einem Vortrag gar, dass noch Jahrzehnte später bei Themen, die mit Angst verknüpft sind, keine kreativen Tätigkeiten möglich sind.85 Es ist also ganz deutlich, dass die Schule nicht nur ein Ort des Wissens sein kann.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte im Jahr 2003 fest, welch wichtige Rolle die Motivation von Schülern für den Lernerfolg hat.86 Und motiviert ist ein Mensch wohl, wenn er Freude an dem hat, was er tut. Der OECD zufolge sei nicht nur guter Unterricht für den Lernerfolg verantwortlich, sondern auch die Eigenmotivation des Schülers. So zeigt das Ergebnis: Schüler, die besser motiviert sind und an ihr eigenes Können glauben, erzielen bessere Leistungen in der Schule.

Dieser Zusammenhang klingt intuitiv so richtig, dass man fast meinen mag, eine solche Studie nicht zu benötigen. Doch schaut man in unserem Schulsystem an, wie wenig Zeit für die Frage nach Glück und Motivation aufgewendet wird, dann bleibt nur die Forderung: mehr davon! Am besten wöchentlich, bis endlich jemand in der Politik aufwacht und die Dramatik begreift, die sich hinter diesem Thema verbirgt: Wir brauchen ein Schulsystem, in dem Lernen Spaß macht. Und das würde gleichzeitig bedeuten, dass die Schule an sich neu gedacht und auch die Einstellung gegenüber Schülern verändert werden muss.

Denn wie Kinder und Jugendliche von außen gesehen werden, wirkt sich direkt auf sie aus. Einstellungen, die durch das System vermittelt werden, übertragen sich einer anderen Studie der OECD zufolge87 auf die Schüler und beeinflussen so direkt ihre Zukunft. Auf der psychologischen Ebene lässt sich das mit dem sogenannten Erwartung-mal-Wert-Modell des Pioniers der Motivationspsychologie, John Atkinson, erklären. Danach wird eine Person wenig um ein Ziel bemüht sein, wenn sie glaubt, dass ihre Erfolgsaussichten gering sind. Denn Menschen streben danach, Ereignisse zu erleben, die positiv für sie sind. Misserfolge suchen sie zu vermeiden.88 Anders gesagt: Ein Schüler, der nicht an sich glaubt und somit auch seine Erfolgsaussichten als gering einschätzt, wird immer unter seinen eigentlichen Möglichkeiten bleiben – solange das System ihm nichts anderes kommuniziert. Wenn die Schule also davon ausgeht, dass bestimmte Schüler nicht motiviert werden müssen, da sie ohnehin verloren sind, überträgt sich das auf den Eigenantrieb der Jugendlichen.

Dieses Problem erleben wir in Deutschland in extremer Form an Hauptschulen. Dort lernen Schüler, denen das Schulsystem vermittelt hat: Ihr seid nicht gut genug! Sie wurden nach der Grundschule aussortiert und wissen, dass sie nicht für gut genug befunden wurden, eine Realschule oder gar ein Gymnasium zu besuchen. Die Gesellschaft trägt ihr Übriges dazu bei: Seien es der Jugendclub, wo abschätzig über „die Hauptschüler“ geredet wird, die Freunde aus der Grundschule, die sich von ihnen distanzieren, oder die Medien, die sich auf Extremfelle stürzen und damit weiter Vorurteile nähren: dumm, faul und der Wunsch, einmal Hartz IV zu bekommen. Selbst mögliche Idole wie Kultmoderator Stephan Raab bedienen diese Klischees. Über die Schlagworte dumm und Hauptschülerin gelangt man auf der Plattform YouTube zu einem bekannten Einspieler der Sendung TV Total89: Ein junges Mädchen antwortet auf die Frage, was ihr Traumberuf wäre: arbeitslos – ein Lacher, zumindest für viele Zuschauer. Die Hauptschüler selbst fühlen sich diffamiert und müssen ständig beweisen, dass sie diesem Klischee nicht entsprechen. Wenn überhaupt, bedient wohl nur ein minimaler Prozentsatz der Hauptschüler die Vorstellungen, die über sie kursieren.

Dass unter diesen Umständen bei Hauptschülern nur selten die Motivation erhalten bleibt, die sie, wie wohl fast alle Kinder, bei der Einschulung hatten, verwundert nicht. Sie werden durch das System regelrecht demotiviert. Das Fatale aber ist, dass es dabei nicht bleibt. Das Urteil der Gesellschaft nehmen sie an, und sie beginnen, wirklich zu glauben, dass sie unfähig sind! Dies ist so entscheidend, dass es an dieser Stelle wiederholt werden muss: Sie beginnen aufgrund falscher Bilder zu glauben, dass sie unfähig sind! So trifft man das Selbstwertgefühl dieser Jugendlichen maximal im Keller an, wenn sie es nicht schon ganz begraben haben. Dieser verlorene Glaube an sich selbst, wiegt bei jedem Schritt, den sie in der Schule machen, schwer, und sogar noch im späteren Berufsleben. Im Unterricht versuchen sie oft gar nicht, gegebene Aufgaben zu lösen, weil sie die Gewissheit verinnerlicht haben, es ohnehin nicht zu schaffen. So bleibt die Mehrheit der Hauptschüler weit hinter ihren Möglichkeiten, da das System ihnen nichts anderes vermittelt. Die Chancenlosigkeit, die sich daraus ergibt, birgt zudem offenbar die Gefahr, psychisch krank zu machen. So sind besonders Schüler an Haupt- und Realschulen von depressiven Stimmungen betroffen – insgesamt 32 Prozent. Doch auch auf Gymnasien hat der Druck und die Angst zu versagen übergegriffen. Dort ist fast jeder Vierte von Selbstzweifeln geplagt. 90

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