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1.6.2 Psychische Erkrankungen

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Die Erfassung psychischer Erkrankungen bei Menschen mit geistiger Behinderung erweist sich als schwierig, denn die klassischen Erhebungsinstrumente und Kriterienkataloge wie ICD-10-DCR und DSM-IV-TR sind ausgerichtet auf Menschen mit einer der Norm entsprechenden geistigen Entwicklung. Entwicklungsverzögerungen üben einen pathoplastischen Effekt aus auf die psychopathologischen Kriterien zur Ermittlung von psychiatrischen Erkrankungen, der in den Instrumenten nicht berücksichtigt wird (Cooper et al.2007). Auch die Ergebnisse der Untersuchungen mit DC-LD (Diagnostic Criteria for Psychiatric Disorders for Use with Adults with Learning Disabilities) zeigen deutliche Abweichungen von den Ergebnissen von klinisch erstellten Diagnosen.

Bhaumik et al. (2008) befassen sich mit dieser Problematik und stellen fest, dass eine präzise Diagnosestellung nur möglich ist, wenn der Patient über die Fähigkeit verfügt, die eigene Symptomatik zu beschreiben. Menschen mit schwerer und schwerster geistiger Behinderung haben in der Regel ausgeprägte Kommunikationsdefizite und sind dazu nicht in der Lage. Diagnosen werden auf der Grundlage von Auskünften der Angehörigen oder Pflegepersonen erstellt, die der Untersucher dann seiner Erfahrung gemäß einordnet und beurteilt. Insbesondere ist es mit großen Schwierigkeiten verbunden, die Diagnose einer Schizophrenie bei geistiger Behinderung zu stellen, da Halluzinationen und Wahnvorstellungen kaum ohne eine differenzierte Wahrnehmung und gut ausgebildeten sprachlichen Fähigkeiten zu ermitteln sind. Die höhere Prävalenz von Schizophrenien bei Menschen mit leichter und mäßiger geistiger Behinderung kann auf diese Weise erklärt werden.

In ihrer sehr sorgfältig erarbeiteten Studie zeigen die Ergebnisse von Cooper et al. (2007) eine Punktprävalenz für psychische Erkrankungen nach klinischer Diagnosestellung von 40,9 %, nach DC-LD von 35,2 %, nach ICD-10-DCR von 16,6 % und nach DSM-IV-TR von 15,7 %.

In der folgenden Tabelle ( Tab. 4) sind die Ergebnisse der klinischen Untersuchungen dargestellt.

Tab. 4: Punktprävalenz psychischer Erkrankungen bei geistiger Behinderung unterschiedlicher Schweregrade nach klinischer Diagnosestellung (Cooper et al. 2007)


DiagnoseLeichte geistige Behinderung N = 398Mäßige bis schwere geistige Behinderung N = 625Alle Schweregrade geistige Behinderung N = 1023

Herausforderndes Verhalten, dessen Prävalenz mit dem Schweregrad der geistigen Behinderung zunimmt, hat den höchsten Anteil an der Gesamtheit der psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ebenso findet sich die Autismus-Spektrum-Störung häufiger bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Persönlichkeitsstörungen sind sehr selten. Nach Bhaumik et al. (2008) werden die Persönlichkeitsstörungen bei geistiger Behinderung unterschätzt, sie werden häufig nicht entdeckt, da sie von herausforderndem Verhalten überlagert werden.

In der Literatur werden folgende Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Erkrankungen genannt (Cooper et al. 2007):

• Zunehmender Schweregrad der geistigen Behinderung

• eine höhere Anzahl von kritischen Lebensereignissen in den vergangenen 12 Monaten

• eine höhere Anzahl von Besuchen beim Hausarzt in den vergangenen 12 Monaten als ein Hinweis auf das Vorliegen körperlicher Beschwerden oder Erkrankungen

• Rauchen

• Betreuung durch bezahlte Assistenz

• Harninkontinenz

• weibliches Geschlecht

In einer kleinen Studie von Schmückle et al. (2017) wurden Risiko- und Schutzfaktoren für Depression und Angststörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung ermittelt. Risikofaktoren für schwere depressive Beschwerden fanden sich (a) bei hohem Behinderungsgrad, (b) bei verstärkter Angst vor neuen Situationen, wie beispielsweise einem Umzug ins Heim, wenn die Ablösung von den Eltern noch nicht erfolgt ist, (c) bei fehlendem Kontakt zu Gleichaltrigen und möglicherweise (d) bei eingeschränkter Kommunikation. Hinzu kommt (e) ein geringes Maß an Möglichkeiten der Selbstbestimmung in Alltagsfragen.

Als Schutzfaktor in Bezug auf depressive Beschwerden wird die Ausprägung »nur selten durch Alltagsaufgaben überfordert« von den Autoren genannt. Menschen mit geistiger Behinderung, die im Alltag zurechtkommen, und die das Gefühl haben, den Anforderungen zu genügen, zeigen seltener depressive Beschwerden.

Gewalterfahrungen sind assoziiert mit Angststörungen. Der Kontext konnte wegen der geringen Fallzahl nicht ermittelt werden, die Autoren gehen davon aus, dass es sich um Gewaltanwendungen von Pflegepersonal in Wohnheimen oder Mobbing in Werkstätten handeln könnte. Im privaten Bereich kann es sich um (sexuelle) Gewalt in der Familie handeln, aufgrund der starken Abhängigkeit von den Eltern, Angehörigen oder in Partnerschaften.

In der Literatur wird mehrfach darauf hingewiesen, dass der Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung, der mit Psychopharmaka behandelt wird, weit höher ist als der Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung, bei denen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde. Antipsychotika werden häufig bei herausforderndem Verhalten verabreicht, ohne dass eine Diagnose für eine psychische Erkrankung vorliegt.

Sheehan et al. (2015) dokumentierte bei geistig behinderten Menschen eine Prävalenz psychischer Erkrankungen von 21 %, weitere 25 % der Stichprobe zeigten herausforderndes Verhalten. Zu Beginn der Studie erhielten jedoch 49 % der Gesamtstichprobe Psychopharmaka, und an deren Ende, nach vier Jahren, waren es bereits 63 %. Bei den verabreichten Substanzen handelte es sich an erster Stelle um Anxiolytika, Hypnotika, gefolgt von Antidepressiva. 25 % der Stichprobe erhielten Antipsychotika, wobei bei der Mehrzahl der Fälle keine Diagnose vorlag, die den Einsatz dieser Substanzen gerechtfertigt hätte.

Bei herausforderndem Verhalten, bei schweren psychiatrischen Erkrankungen, bei Depression, Angststörung, Autismus oder Demenz und im höheren Lebensalter werden vermehrt Antipsychotika verabreicht. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung werden bei geistig behinderten Menschen häufiger Antipsychotika verordnet; in der Gesamtbevölkerung werden etwa bei 50 %, bei geistig behinderten Menschen bei 71 % Verordnungen ausgestellt, ohne dass eine schwere psychische Erkrankung vorliegt, die dies rechtfertigte.

Die medikamentöse Therapie bei herausforderndem Verhalten wurde ausführlich durch Deb et al. (2015) in England untersucht. Die Autoren fanden in einer Stichprobe von geistig behinderten Menschen mit herausforderndem Verhalten in 89 % eine Behandlung mit Psychopharmaka. Am häufigsten wurde Risperidon angewendet – eine Substanz, die zu den Antipsychotika gehört – hinzu kamen Chlorpromazin, Haloperidol, Olanzapin, Quetiapin, des Weiteren SSRI Antidepressiva (Citalopram, Fluoxetin) und Stimmungsstabilisatoren wie Carbamazepin und Na-Valproat, die auch zur Behandlung von Epilepsien eingesetzt werden. Nur 11 % der Stichprobe erhielten keine Psychopharmaka, 45 % der Stichprobe erhielten mehr als eine antipsychotische Substanz, obwohl Nebenwirkungen und Wechselwirkungen bei Multimedikation mit Antipsychotika weitgehend unerforscht sind.

Die oben beschriebene medikamentöse Therapie erfolgte ausschließlich zur Behandlung von herausforderndem und aggressivem Verhalten. Eine höhere Dosierung von Antipsychotika fand sich bei schweren aggressiven Verhaltensstörungen und im höheren Lebensalter. Diese Zustände sind schwer zu erklären und geben einen Hinweis auf die großen Schwierigkeiten, die bei der Pflege und Betreuung von geistig behinderten Menschen mit hohem Schweregrad oder herausforderndem Verhalten und hoher Aggressivität auftreten.

Eine Arbeit aus Deutschland befasst sich mit der Anwendung von Psychopharmaka und kommt zum Schluss, dass die Anwendung von Psychopharmaka bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung in der BRD seltener erfolgt als in anderen Ländern mit hohem Einkommen wie Großbritannien oder den USA. Allerdings werden auch hier Psychopharmaka angewendet, um herausforderndes Verhalten ohne Vorliegen einer psychischen Erkrankung zu dämpfen (Schützwohl et al. 2016).

Die Psychiatrische Weltvereinigung (World Psychiatric Association WPA) hat 2009 einen Leitfaden zur Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten herausgegeben, in dem ausführlich die Vorgehensweise bei medikamentöser Behandlung, die Dauer der Behandlung sowie die Risiken und möglichen Effekte der Therapie besprochen werden (Deb et al. 2009).

Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter

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