Читать книгу Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter - Группа авторов - Страница 36

2.2 Älterwerden mit chronisch psychischer Erkrankung

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Risikofaktoren für das Entstehen einer schizophrenen Erkrankung und ihre Symptomatik verändern sich jenseits des 40. Lebensjahres. Die beiden wichtigsten Risikofaktoren in den jüngeren Altersgruppen, die familiäre Disposition sowie Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, die die Ursache einer Entwicklungsstörung des Gehirns bilden können, spielen in den höheren Altersgruppen eine untergeordnete Rolle, dafür sind folgende Faktoren in den höheren Altersgruppen von zentraler Bedeutung für einen späten Ausbruch der Erkrankung: Schwerhörigkeit und Sehschwäche, kognitive Beeinträchtigung, Einsamkeit, soziale Isolierung und das weibliche Geschlecht (Häfner 2005, S. 327 f.). Auch die Symptomatik verändert sich mit zunehmendem Alter der Patienten. Das Risiko für das Auftreten eines paranoiden oder eines systematischen Wahns nimmt zu; Denk- oder Ichstörungen als Zeichen einer mentalen Desorganisation treten hingegen bei Erkrankung im hohen Alter nur sehr selten auf.

Im Verlauf zeigt sich, dass sich positive sowie negative Symptome über die Zeit nur wenig verändern, mit Ausnahme der affektiven Verflachung, der Verlangsamung und einer Neigung zur Selbstvernachlässigung. Ob die deutliche Zunahme dieser negativen Symptome auf die Entwicklung der Erkrankung zurückzuführen ist oder ob sich die Symptomatik sekundär im Rahmen einer ungünstigen Umweltsituation mit wenigen Anregungen bis hin zur sozialen und kognitiven Deprivation ausbildet, ist nicht geklärt (Häfner 2005, S. 153).

Nach Aussagen der Mitarbeiter entspricht der Verlauf der Alternsprozesse bei chronisch psychisch kranken Menschen jenem in der Gesamtbevölkerung. Eine große interindividuelle Variabilität zeigt sich jedoch in den Reaktionen auf den wahrgenommenen Alternsprozess. Die Schädigung des Gehirns und deren Folgen bleiben bei geistig behinderten Menschen im Lebenslauf weitgehend unverändert. Die Einschränkungen bleiben daher weitgehend konstant und sind eher kalkulierbar und schränken die Entwicklung vorhandener unversehrter Bereiche nicht ein; ihre Integration in den Lebenslauf findet sich daher häufiger. Die Integration einer Erkrankung mit wechselnden psychischen und körperlichen Symptomen, einem nicht kalkulierbaren Auf und Ab der Befindlichkeit und dem häufig nicht vorhersehbaren Verlauf der Erkrankung ist für chronisch psychisch kranke Menschen sehr schwierig. Kommen zusätzliche Belastungen hinzu, ist es noch schwieriger für den Patienten, das ohnehin labile Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Oft hatten ältere psychisch kranke Patienten einen eher unauffälligen Lebensabschnitt hinter sich, ehe die Erkrankung zum Ausbruch kam. Sie waren verheiratet, hatten Kinder, standen in der Ausbildung oder im Berufsleben. Durch das Fortschreiten der Erkrankung wurde es immer schwieriger, die täglichen Anforderungen zu überschauen, zu verstehen und zu erfüllen. Eine Integration in die Gesellschaft durch Befolgen der üblichen Rituale, durch Übernehmen gemeinsamer Anschauungen, durch Respektieren und Anerkennen der gerade herrschenden Konventionen, ein Unterscheiden des Wesentlichen vom Unwesentlichen waren häufig nicht mehr möglich, weil die Patienten zeitweise in ihrer eigenen Welt gefangen waren, wo andere Rituale, Anschauungen, Gesetze und Konventionen galten und andere Merkmale Bedeutung hatten.

Die für Gesunde geltende Realität wird vom Patienten mit fremden Augen gesehen, die Auseinandersetzung erfolgt über die Grenze einer anderen Wirklichkeit hinweg, mit Gesetzmäßigkeiten, die meist nicht kommunizierbar sind. Patienten können in ihre Realität flüchten, wenn die äußere Welt zu belastend, zu unverständlich, zu schwer zu ertragen ist, oder sie suchen Hilfe in der äußeren Realität, wenn die innere Wirklichkeit sie zu sehr ängstigt und bedrängt. Beispielsweise bat ein chronisch psychisch kranker Patient in einer Einrichtung der Altenhilfe jeweils darum, in eine psychiatrische Klinik stationär eingeliefert zu werden, wenn die vielen Stimmen, die er hörte, immer lauter wurden und ihn so sehr bedrängten, dass es für ihn unerträglich wurde. In der Klinik konnte durch eine Anpassung der Medikation dieser Zustand meist gemildert werden.

Die Einrichtungen, in denen ältere psychisch kranke Patienten leben, sind für sie im Gegensatz zu älteren Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht Heimat oder ein Zuhause. Psychisch kranke Menschen sind in die Einrichtung eingezogen, weil sie selbst oder die Angehörigen sich nicht mehr zurechtfinden konnten, sie haben ihre Aufgaben und Rollen verloren, haben eine Odyssee durch psychiatrische Fachkliniken hinter sich. Das Haus ist Endstation, eine weitere Veränderung ist nicht vorgesehen, vielleicht auch nicht vorstellbar, und daraus ergibt sich eine gewisse Perspektivlosigkeit, ein Interessenverlust an allem, was neu ist, ein sich Zurückziehen aus Gruppenaktivitäten, ein sozialer Rückzug. Möglicherweise ist dieses Verhalten nicht nur durch den Alternsprozess bedingt, sondern wird durch die Vorstellung verstärkt, »aus der eigenen Vergangenheit entwurzelt zu sein.«

Der Verlauf der Grunderkrankung ist nach Aussagen der Mitarbeiter im Alter individuell sehr unterschiedlich, die Befindlichkeit ist großen Schwankungen unterworfen, und selbst im höheren Alter können Psychosen plötzlich ausbrechen. Manche Patienten mit Schizophrenie werden ruhiger, Depressionen flachen ab, manche Bewohner werden zugänglicher und gelassener, andere wiederum werden zunehmend zwanghaft und aggressiv. Die Aussagen der Mitarbeiter spiegeln diese Vielfalt: »Im Alter gleichen sich psychisch Kranke der Normalität an, das Wahnhafte wird milder« oder »im Alter hat der Bewohner nicht mehr die Kraft, psychische Störungen abzuschotten, und die Krankheit zeigt sich deutlicher.« Jeder Bewohner hat seine individuelle Strategie im Umgang mit seiner Erkrankung, und jede Erkrankung hat ihren individuellen Verlauf und Erscheinungsform in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und der Summe des Erlebten. Dies empfinden die Mitarbeiter und sie sagen: »Ich wünschte mir, unter die Erkrankung, die sich wie eine Decke auf den Bewohner gelegt hat, zu schauen, um zu sehen, was für ein Mensch dahinter ist.«

Die Mitarbeiter dieser Einrichtungen nannten in den Fokusgruppen weit weniger körperliche Veränderungen, die sie dem Alternsprozess zuschreiben, als jene Mitarbeiter, die geistig behinderte Menschen betreuen. Das Ergebnis der Befragung zeigte Verluste im Bereich der Gesundheit, der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und daraus sich entwickelnde Einschränkungen der Selbstständigkeit. Als Auslöser eines prozesshaft verlaufenden Verlusts an körperlicher Leistungsfähigkeit wurden häufig Erkrankungen oder belastende Ereignisse genannt, der Verlauf war jeweils unterschiedlich. Erfolgte der Abbau körperlicher Funktionen langsam, so überraschte er häufig beide, den Bewohner und den Mitarbeiter, wenn sie plötzlich feststellten, dass der Bewohner beim Waschen Unterstützung brauchte. Körperliche Veränderungen, die auf den Alternsprozess zurückgeführt wurden, sind das Auftreten einer Inkontinenz und eine veränderte Schmerzempfindung, die möglicherweise beide auch auf Medikamente zurückzuführen sind. Einige Patienten klagten häufiger über körperliche Symptome wie z. B. Schmerzen. Es ist auch für den erfahrenen Mitarbeiter schwer zu beurteilen, was hinter den geklagten Schmerzen steht: Ein Appell für mehr Zuwendung? Ein sich Drücken vor bestimmten Arbeiten? Die ersten Zeichen einer Krankheit? Die Schmerzempfindlichkeit ist unterschiedlich, viele Bewohner äußern keine Schmerzen, manche werden bei Schmerzen aggressiv und wieder andere scheinen keine Schmerzen zu empfinden und beachten auch blutende Verletzungen nicht.

Ein Teil der Mitarbeiter schätzte die Bewohner ihrer Einrichtung jünger und gesünder ein im Vergleich zu psychisch kranken Menschen, die außerhalb einer stationären Einrichtung leben. Als Begründung gaben sie an, dass man ihnen vieles abnimmt und sie geschont werden, und dass sie nicht den Schwierigkeiten des Alltags ausgesetzt sind. »Die Bewohner sind noch sehr aktiv und für ihr Alter noch sehr fit. Sie leben sorglos im Haus, werden gut gepflegt, und das erhält jung.«

Es wurde des Weiteren auf eine allgemeine Verlangsamung im körperlichen und im psychischen Bereich hingewiesen. Das, was besprochen wurde, wird nun langsamer umgesetzt, die alltäglichen Verrichtungen brauchen mehr Zeit, und es kommt bei einem sehr hohen Anteil psychisch kranker Bewohner zu einer zunehmenden Vernachlässigung der körperlichen Hygiene. Der Hilfebedarf im Alltag, wie z. B. Unterstützung bei der Körperpflege, nimmt deutlich zu. Es findet sich generell eine raschere Ermüdbarkeit, die Bewohner wünschen sich längere und häufigere Pausen bei allen Aktivitäten, und sie sprechen das Bedürfnis aus, sich zurückziehen zu können. Der Mitarbeiter wird den Rückzug des Bewohners beobachten, um den Zeitpunkt nicht unbemerkt verstreichen zu lassen, an dem der Bewohner allmählich in seine eigene Welt entgleitet. Die soziale Integration wird brüchig, soziale Beziehungen und auch die sozial-kommunikativen Fähigkeiten der Bewohner gehen häufig verloren. Wie viel Rückzug darf zugelassen werden? Wann muss der Mitarbeiter eingreifen und auf welche Weise? Ein solches Eingreifen geschieht nicht immer auf Wunsch des Bewohners, und es bedarf fundierter fachlicher Kenntnisse und Erfahrung, dem Patienten Hilfestellung zu geben.

Die Bewohner werden zunehmend vergesslich, sie zeigen häufig eine Konzentrationsschwäche und machen mehr Fehler auch bei Routinetätigkeiten. Eine häufiger auftretende Desorientiertheit in Ort, Zeit und Person macht sich bemerkbar, eine Differenzierung jedoch zwischen einer altersbedingten Vergesslichkeit und einer demenziellen Entwicklung ist für den Mitarbeiter oft nicht möglich. Einsamkeit und Isolation nehmen zu, es ist für psychisch Kranke ohnehin schwierig, Kontakte zu knüpfen, und häufig ist auch die verbale Kommunikation erschwert. In dieser Zeit des Umbruchs, die immer schwierig zu bewältigen ist, gewinnen vertraute Dinge und Aktivitäten an Bedeutung, und die eigene Vergangenheit rückt wieder mehr in den Vordergrund, Bekanntes gibt Sicherheit. Einschränkungen durch den Alternsprozess, die vom Bewohner wahrgenommen werden, führen zu vermehrter Unsicherheit. Zwischenmenschliche Beziehungen gewinnen an Bedeutung, denn sie vermitteln in dieser Phase einer zunehmenden Verunsicherung dem Patienten Sicherheit und Schutz.

Die Akzeptanz und der Umgang mit körperlichen Einschränkungen sind für psychisch Erkrankte schwieriger als für Gesunde. Die Selbsteinschätzung lässt sich oft schwer an den aktuellen körperlichen Zustand anpassen, die alternsbedingten Einschränkungen werden häufig nicht wahrgenommen, und das kann sich in einer Überschätzung eigener Möglichkeiten äußern, die wiederum den Patienten gefährden. Die Patienten sind häufig unzufrieden mit sich und ihrem Zustand, dies wirkt sich auch auf die Umwelt aus. Manche Bewohner überspielen den Alternsprozess, wollen ihn nicht wahrhaben: »Es vergeht wieder.« Sie lehnen Hilfe ab, bauen eine Fassade auf: »Ich kann es, ich weiß es« – sie wissen und können es aber nicht mehr. Und wenn sie spüren, dass bestimmte Dinge gar nicht mehr gehen, werden manche Bewohner aggressiv, andere lassen sich gehen. Wenn vor Beginn dieser Entwicklung schon ein Hilfe- oder Pflegebedarf bestanden hat, dann ist allerdings der Einschnitt nicht so groß und wird besser bewältigt.

Die Fähigkeit, Aufgaben und Belastungen zu bewältigen, die Lebensphase Alter selbstständig zu gestalten und ein individuelles Ausmaß an Zufriedenheit zu entwickeln, ist seltener vorhanden als bei älteren geistig behinderten Menschen. Nach Aussagen der Mitarbeiter wird die aktuelle Lebensphase nur von etwa einem Drittel psychisch kranker Menschen als nützlich empfunden, und nur für etwa die Hälfte der Patienten hat das Leben einen Sinn. Die persönliche Lebenseinstellung ist im Gegensatz zu älteren geistig behinderten Menschen nur selten hoffnungsvoll und selten optimistisch.

Alternsbedingte Veränderungen anzunehmen ist ein langwieriger Prozess und dauert beim psychisch kranken Menschen sehr viel länger als beim demenziell Erkrankten oder geistig behinderten Menschen. Die Befindlichkeit wechselt laufend, eine Akzeptanz wird immer nur für einen kurzen Zeitraum erreicht, dann aber erfolgt wieder eine Rebellion gegen die Last des Älterwerdens, und es braucht Zeit, bis erneut eine gewisse Anpassung erfolgt ist. Der Prozess wiederholt sich, die Bewohner kommen nicht zur Ruhe.

Der Umgang mit Tod und Sterben erfolgt in sehr unterschiedlicher Weise: Manche begegnen der Thematik mit viel Offenheit, andere entwickeln Ängste oder – wie ein Mitarbeiter es ausdrückt – »sie flüchten in den Wahn.« Da die Bewohner jedoch meistens bis zu ihrem Tod in den Einrichtungen bleiben können, ist das Problem für viele nicht so gravierend, da das Sterben nicht mit einem weiteren Ortswechsel verbunden ist. Die Thematik wird auf der Wohngruppe nur beim Tod eines Bewohners angesprochen. Wenn das Bedürfnis da ist, sprechen die Mitarbeiter mit den Bewohnern über Sterben und Tod, es wird auch ein Seelsorger hinzugezogen, denn die Bewohner gehen eher streng mit sich um »und es ist wichtig, sie auf Barmherzigkeit und Vergebung hinzuweisen.« Nur etwa ein Drittel der Mitarbeiter geben an, das Leben des Bewohners sei stark von religiösen und moralischen Grundsätzen bestimmt. Abschließend fügen sie hinzu: »Es ist schwerer zu sterben ohne religiöse Bindung.«

Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter

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