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Als Caritas glaubwürdig in Märkten handeln Georg Cremer I. Zumutungen einer neuen Rolle: Unternehmen in den Märkten sozialer Dienstleistungen

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Norbert Feldhoff wurde 1996 Vizepräsident des Deutschen Caritasverbandes, in einer Zeit, in der sich die Architektur der Erbringung sozialer Dienstleistungen in Deutschland und die Beziehungen zwischen öffentlichen Leistungsträgern und privat-gemeinnützigen Leistungserbringern stark veränderten. In Folge dieser Veränderungen müssen die sozialen Dienste der Caritas heute als unternehmerische Einheiten in einem wettbewerblichen Umfeld gesteuert werden. Mit der Einführung der Pflegeversicherung (SGB XI) Mitte der 1990er Jahre hat sich die bundesdeutsche Sozialpolitik de facto von der über lange Zeit unangefochtenen Vorstellung verabschiedet, „der Markt“ und „das Soziale“ stünden per se im Widerspruch. Der Markt zur Erbringung von Pflegeleistungen wurde stark ausgeweitet und gegenüber privat-gewerblichen Anbietern geöffnet. Auch bei anderen sozialen Dienstleistungen ist der Wettbewerb intensiviert worden. Dies warf große Herausforderungen auch für die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsverfahren auf. Als Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes von 1996 bis 2010 wirkte Norbert Feldhoff in herausgehobener Funktion an einer der entscheidenden Schaltstellen mit, die Veränderungen zu bewältigen. Der folgende Beitrag thematisiert die Herausforderungen für die verbandliche Caritas, auf die verstärkte Nutzung von Markt und Wettbewerb bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen eine angemessene ordnungspolitische Antwort zu finden und sich in den Märkten sozialer Dienstleistungen glaubhaft zu behaupten.

Die mit der Pflegeversicherung angestoßenen, aber den gesamten sozialen Dienstleistungssektor erfassenden Veränderungen waren nicht das Ergebnis eines die Hilfefelder übergreifenden Reformplans zur Stärkung des Wettbewerbs bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen; sie verliefen in den einzelnen Hilfefeldern sehr unterschiedlich und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Sie war auch nicht begleitet von einer ordnungspolitischen Debatte darüber, wie die Märkte sozialer Dienstleistungen zu gestalten seien. Auch war die Haltung der Leistungsträger durchaus widersprüchlich. Sie betonten die Bedeutung des Wettbewerbs insbesondere dann, wenn sie mit der Einführung wettbewerblicher Elemente tendenziell eine Kostensenkung erwarteten, bewerteten aber dennoch die einer wettbewerblichen Gestaltung inhärente Vielfalt von Anbietern als „überflüssige“ Doppelstruktur.

Trotz aller Umbrüche blieb das Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis das in Deutschland dominierende Marktordnungsmodell für die Märkte sozialer Dienstleistungen: Der Staat garantiert den Zugang der Bürger und Bürgerinnen zu sozialen Dienstleistungen in einem sozialrechtlich definierten Umfang, tritt aber in der Regel nicht selbst als Leistungserbringer auf, sondern schließt mit Leistungserbringern (bzw. ihren Zusammenschlüssen) öffentlich-rechtliche Versorgungsverträge ab. Diese regeln insbesondere den Leistungsinhalt, die Vergütung sowie die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle und bilden die Grundlage dafür, die Leistung zu vergüten, die leistungsberechtigte Bürger von Leistungserbringern auf der Grundlage privat-rechtlicher Verträge erhalten. Dieses aus drei Rechtsbeziehungen gebildete Dreiecksverhältnis lässt Raum für die Tätigkeit von Wohlfahrtsverbänden und sichert Wahlrechte für die Nutzer. Mit der Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip, der stärkeren Nutzung subjektbezogener Finanzierungsformen und der Öffnung des Marktes für privat-gewerbliche Anbieter hat sich das Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis von einer korporatistischen Variante zu einer wettbewerblichen Variante gewandelt.1

Die Haltung in den Wohlfahrtsverbänden gegenüber den mit der Pflegeversicherung angestoßenen Veränderungen war äußerst marktkritisch. Das Gefühl war dominant, dass zwischen dem Sozialen und dem Markt mit seinen Herausforderungen ein nicht überbrückbarer Graben liegt. Es gab auch gepflegte Mythen, so etwa die empirisch nicht untermauerte Sicht, private Anbieter lieferten per se schlechtere Qualität als gemeinnützige Leistungserbringer, und sofern sie günstiger wären, könne es nur daran liegen. Marktaversion prägte auch die Haltung vieler Akteure in der verbandlichen Caritas. Sehr deutlich wurde dies im Leitbildprozess Mitte der 1990er Jahre. Das Leitbild2 bekennt sich zum unternehmerischen Handeln der Caritas: „Der Deutsche Caritasverband arbeitet unternehmerisch“. Damals war es höchst strittig, den Begriff des unternehmerischen Handelns auf die Caritas zu beziehen. Zahlreiche, teils erregte Beiträge auf der Vertreterversammlung des Deutschen Caritasverbandes im Jahr 1996, die das Leitbild beriet und in einer vorläufigen Fassung verabschiedete, assoziierten den Begriff des Unternehmerischen mit Gewinnmaximierung und sahen darin einen diametralen Gegensatz zum sozialen Auftrag der Caritas. Das Leitbild bekennt sich zu den „Grundsätzen der Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“. Die Spannung zwischen der Hilfe für Bedürftige und dem Refinanzierungserfordernis wird angedeutet. Besonders umstritten war die folgende Festlegung: Der Verband „macht sein wirtschaftliches Verhalten für die Öffentlichkeit transparent.“ In dem Forum der Vertreterversammlung 1996, das diesen Teil des Leitbildes beriet, fiel dieses Transparenzbekenntnis erst einmal bei der Abstimmung durch. Es bedurfte einiger Kniffs seitens der Versammlungsleitung,3 um nach ausführlichen Erklärungen zur Notwendigkeit einer Transparenzverpflichtung diese durch eine zweite Abstimmung zu retten.

Die Träger der vielen Dienste der verbandlichen Caritas mussten, ob sie wollten oder nicht, Wege finden, sich unter den neuen Bedingungen zu behaupten. Eine pauschale Klage über „Ökonomisierung“ und „Vermarktlichung“ sozialer Dienstleistungen, wie sie unter den Wohlfahrtsverbänden dominant war, nutzte ihnen dabei nichts. Anfang der 2000er Jahre zeigte sich eine deutliche Entfremdung großer Einrichtungsträger mit den verbandlichen Gremien, die in der Kritik an den Arbeitsvertragsrichtlinien des DCV (AVR) und einer als mangelhaft empfundenen Vertretung verbandlicher Interessen auf europäischer Ebene ihren Ausdruck fand. Die Auseinandersetzung zur Tarifpolitik führte zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (ACU), die Unzufriedenheit mit der Vertretung unternehmerischer Interessen in Brüssel führte zur Gründung des Brüsseler Kreises durch Unternehmen aus Diakonie und Caritas.

Anfang der 2000er Jahre schien über diese Konflikte selbst die Einheit der verbandlichen Caritas in Frage zu stehen. Diskutiert wurde eine organisatorische Trennung des Verbandes4 in eine Caritas I, die ausschließlich anwaltschaftlich agiert, und eine Caritas II, die die unternehmerischen Belange jener Dienste und Einrichtungen vertritt, die marktnah organisiert sind und über eine Finanzierung verfügen, die auf sozialrechtlich kodifizierten Leistungsansprüchen der Bürger aufbaut und damit gesichert ist. Es ließ sich aber aus einer solchen Trennung kein tragfähiges Modell für die Caritas ableiten, denn es ergäben sich erhebliche Legitimitätsprobleme. Die unternehmerische Caritas II könnte schwer begründen, warum es eine spezifische Vertretung der Interessen der Leistungserbringer der Caritas geben muss und was diese von einer Interessenvertretung privat-gewerblicher Anbieter unterscheidet. Die anwaltschaftliche Caritas I dagegen würde sich vermutlich von unternehmerischen Fragen, wie soziale Dienste in der Fläche gesichert werden können, weitgehend abkoppeln. Eine Anwaltschaftlichkeit für hilfebedürftige Bürger, die sich aber nicht der Frage stellte, wie Hilfen in der realen Welt verwirklicht werden können, bliebe letztlich folgenlos.

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