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3.2. Das Konzept einer praktischen Vernunft
ОглавлениеBesondere Bedeutung für das Konzept der Praxis hat somit bei Aristoteles die Annahme einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, die er selbst bereits an drei Stellen als „praktische Vernunft“ bezeichnet. Diese Stellen lassen deutlich erkennen, wie sich das aristotelische Konzept praktischer Vernunft von der gleichnamigen Konzeption Immanuel Kants unterscheidet, die vom strikt universalen kategorischen Imperativ geprägt ist. Den Ausdruck „Praktische Vernunft“ gebraucht Aristoteles explizit an folgenden Stellen:
Diese beiden sind also Vermögen der örtlichen Bewegung, Geist und Streben, und zwar der Geist, der um etwas willen nachdenkt und der praktische (nūs de ho heneka tū logizomenos kai ho praktikos). Er unterscheidet sich nämlich durch sein Ziel vom theoretischen. Auch jedes Streben erfolgt um etwas willen. Worauf sich nämlich das Streben richtet, dies ist das Prinzip der praktischen Vernunft (hū gar hē orexis, hautē archē tū praktikū nū). Das Ende ist aber das Prinzip der Praxis. Folglich werden diese beiden zu Recht für die Anfänge der Bewegung gehalten, Streben und praktische Vernunft (orexis kai dianoia praktikē). (De anima [DA] III 10, 433a13–18)
Dasselbe muss die Vernunfterkenntnis sagen und das Streben verfolgen. Dies ist nun die praktische Vernunft und die entsprechende Wahrheit (hē dianoia kai hē alētheia praktikē). Bei der theoretischen und weder praktischen noch poiētischen Vernunft ist das gute und schlechte Funktionieren das Wahre und das Falsche (dies ist nämlich die Funktion jedes Vernunftvermögens). Beim praktischen Vernunftvermögen aber besteht die Wahrheit in Übereinstimmung mit dem richtigen Streben (NE VI 2, 1139a22–31).
Es gibt Leute, die […] häufig, ohne aufzufallen, der Sache nicht zugehörige und überflüssige Argumente (logous) vorbringen. Dies aber tun sie manchmal durch Unwissenheit, manchmal durch Frechheit, und durch sie lassen sich manchmal auch die Erfahrenen und zum Handeln Fähigen täuschen, durch Leute, die architektonische oder praktische Vernunft (dianoian architektonikēn ē praktikēn) weder besitzen noch dazu in der Lage sind. (EE I 6, 1216b40–17a10).
Die ersten beiden dieser drei Stellen stimmen in mehreren wichtigen Punkten überein:
1 Es gibt eine praktische Vernunft, die sich von der theoretischen unterscheidet.
2 Der Unterschied zum theoretischen Denken besteht darin, dass die praktische Vernunft sich auf ein Ziel bezieht. Im richtigen Bezug darauf liegt die ihr eigene Wahrheit.
3 |15|Dies hängt damit zusammen, dass die praktische Vernunft stets mit einem Streben verbunden ist.
Weiterhin sind einige Aspekte erwähnenswert, die zumindest an einer der drei Stellen genannt werden: Die De anima-Stelle weist darauf hin, dass auf einen Akt der praktischen Vernunft unmittelbar Praxis, also ein Handeln, folgt. Die Passage aus der Eudemischen Ethik mit ihrem Hinweis auf ein „architektonisches“, d.h. leitendes, Vermögen, zu dem auch die Klugheit in Verbindung stehen soll, bestätigt, dass es hier um nichts anderes geht als um die eben diskutierte Klugheit, der ebenfalls ein solches architektonisches Vermögen, gemäß ihrer politischen Kompetenz, zugeschrieben wird (vgl. NE VI 8, 1141b21–27; zu Übersetzungsvorschlägen Wolf 2002, 266). Vor diesem Hintergrund weist die Stelle aus Nikomachische Ethik VI auf einen Punkt hin, der für unser Verständnis der Aussage, die Klugheit sei eine Tugend, zentral ist: Nach dieser Stelle ist die Richtigkeit des Strebens ausschlaggebend für die Wahrheit der praktischen Vernunft und wird selbst durch die sogenannte ethische Tugend garantiert.