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3.3. Praxis als Zusammenwirken von praktischer Vernunft und Tugend

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Damit ist ein weiterer Zentralbegriff der aristotelischen Ethik angesprochen, nämlich der der Tugend, die auch in der aristotelischen Konzeption eine wesentliche Voraussetzung für die Eudaimonie ist (NE I 6, 1098a 12–18). Denn diese besteht in einer Aktivität gemäß der Tugend, wofür das Besitzen von Tugenden notwendig ist. Bis heute bekannt ist auch Aristoteles’ Lehre der Beschreibung der sogenannten ethischen Tugenden als Haltungen, durch die jemand darauf abzielt, die rechte Mitte in einem Gegenstandsbereich zu treffen, z.B. in der Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit (NE II 5f.). In diesen Kontext gehören auch seine Lehren von den Tugenden des sozialen Lebens, vor allem der Gerechtigkeit in Nikomachische Ethik V, aber auch der Freundschaft in Nikomachische Ethik VIII–IX. Da zudem richtige Freude bzw. Lust aus tugendhafter Aktivität entstehen und ein willensschwaches (akratisches) Handeln durch Tugend verhindert werden soll, kann man die Nikomachische Ethik in ihrer Gänze durchaus als eine ausführliche Tugendlehre charakterisieren.

Ein philosophisch exaktes Verständnis von Aristoteles’ Tugendlehre und ihrem Bezug zum Handeln ist jedoch nicht einfach, und das hat nicht zuletzt mit der praktischen Vernunft bzw. Klugheit zu tun: Zwar ist es klar, dass Aristoteles diese im Rahmen seiner Unterscheidung zweier Arten von Tugenden – nämlich „dianoetischer“ Tugenden des Verstandes und „ethischer“ Tugenden des Charakters, die insbesondere ein kontrolliertes Verhältnis zur eigenen Emotionalität bewirken (NE II 1) – den Verstandestugenden zurechnet. Doch das Verhältnis der Klugheit zu den ethischen Tugenden, das Aristoteles vor allem gegen Ende von Buch VI der Nikomachischen Ethik behandelt, stellt ein zentrales Problem für |16|die Interpretation der aristotelischen Ethik dar. Denn die Aussagen, die Aristoteles hierzu trifft, klingen zunächst einmal kontraintuitiv:

Das Werk wird gemäß der Klugheit und der ethischen Tugend ausgeführt; denn die Tugend macht das Ziel richtig, die Klugheit das auf dieses Hinführende. (NE VI 12, 1144a6–8)

Die Tugend bzw. Schlechtigkeit verdirbt das Prinzip bzw. rettet es; in den Handlungen ist das Worumwillen Prinzip, so wie in der Mathematik die Hypothesen. Weder dort lehrt also die Vernunft die Prinzipien, noch hier, sondern die entweder natürliche oder angewöhnte Tugend lehrt die richtige Meinung über das Prinzip. (NE VI 9, 1151b15–19)

Für den tugendhaften Menschen scheint dies zu bedeuten, dass die Richtigkeit seiner Ziele nicht durch die Klugheit oder durch eine andere Form von Vernunft sichergestellt ist, sondern allein durch die ethische Tugend, d.h. durch sein gutes Ethos bzw. seinen guten Charakter. Diese Ansicht stimmt auch mit den aus De anima III 9–10 und Nikomachische Ethik VI 2 zitierten Aussagen sowie der für Aristoteles wichtigen Verbindung von Klugheit und Überlegung (būleusis) überein, die stets mit dem Hinweis verbunden ist, dass man nicht über Ziele, sondern über Mittel überlegt (v.a. NE III 5–6). Ferner steht sie in enger Korrespondenz zu Aristoteles’ Lehre von der Vorzugswahl (prohairesis), die üblicherweise als Wahl der richtigen Mittel für ein vorliegendes Ziel verstanden wird (NE III 4). Aristoteles war demnach offensichtlich der Meinung, die Ziele richtigen Handelns seien dem Handelnden durch seine ethische Tugend vorgegeben und nicht durch die praktische Vernunft. Die Praxis erweist sich somit als ein guter Lebensvollzug, in dem die Klugheit im Rahmen eines durch Tugend grundsätzlich geprägten Agierens die Richtung des Tuns im Einzelnen ermittelt. Damit ist der Verstehenshorizont bestimmt, von dem aus die aristotelische Praxisphilosophie seit der Antike gelesen wurde, zum Beispiel von Thomas von Aquin im 13. und auch noch von Julius Walter im 19. Jahrhundert: Sie interpretierten die aristotelische Beschreibung von Praxis und praktischer Vernunft nicht primär als eine Deduktion aus Prinzipien, die die Vernunft selbst aufstellt, sondern als einen Vollzug des bereits tugendhaften Menschen. (Thomas von Aquin, SLE VI, 10, l. 151–162 Gauthier; STh Prima Secundae I-II 57, 5; s. Walter 1873, 74f.)

Es ist bemerkenswert und von Aristoteles’ Text her verwunderlich, dass dies für die Forschung des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen nicht mehr gilt. Stattdessen nimmt man seit Richard Loening 1903 verbreitet an, dass nach Aristoteles die Vernunft in der Lage sei „Prinzipien des Handelns“ zu erkennen (vgl. Loening 1903, 26–39), und akzeptiert Leonard Greenwood 1909 geäußerte Umdrehung der aristotelischen Formulierung („the actual stating of the telos […] must be the work not of moral aretē, but of phronēsis“, (Aristoteles [Greenwood] 1909, 51) als Interpretation des von Aristoteles Gemeinten. Das, was für diese das „auf das Ziel hinführende“ (ta pros to telos) ist, wird nun zu „component means“ or „constitutive ends“ umgedeutet, d.h. zu Bestandteilen dessen, was das Ziel ausmacht. (Aristoteles [Greenwood] 1909, 52–54) Vergleichbar unaristotelische Formulierungen sind auch in aktuellen Publikationen zu finden: „The first task |17|of deliberation concerns a decision not about means but about ends“ (Sherman 1989, 71; vgl. Kraut 1989, 343: „The political life is devoted to the fullest possible expression of practical wisdom, and the ethical virtues are desirable because they facilitate this intellectual activity“). Wohl selten hat eine Interpretationstradition, die so offen dem zu interpretierenden Text widerspricht, vergleichbare Erfolge gefeiert.

Die hier angesprochene Frage ist in jedem Fall für die Erklärung dessen, wie sich Praxis vollzieht, von großer Bedeutung: Bietet uns Aristoteles tatsächlich eine Erklärung für die Zielausrichtung unseres Handelns, die nicht unmittelbar eine rationale Bestimmung beinhaltet? In der Tat scheint es ja schwer vorstellbar, dass uns in der Praxis ein nicht rationales Streben Handlungsziele vorgibt: Wie soll man sich dies vorstellen? Ist damit tatsächlich ein nicht rationales Streben gemeint, oder lässt diese Lehre Raum für eine Mitwirkung der Vernunft? Um derartige Fragen zu beantworten, möchte ich nun in drei Schritten Aristoteles’ Standpunkt klarer machen: I. werde ich Aristoteles’ bereits kurz erwähnte Verhältnisbestimmung von Streben und Denken anhand einiger nicht-ethischer Schriften näher erläutern, sodann II. anhand des zweiten Buches der Eudemischen Ethik zeigen, wie sich die Rolle der ethischen Tugend vor diesem Hintergrund erklären lässt, und schließlich III. den Zusammenhang dieser habituellen Zielauffassung mit der Vernunft diskutieren, bevor ich zu einer kurzen vorläufigen Würdigung der aristotelischen Position komme.

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