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5. Schlussfolgerungen: Die bleibende Bedeutung der aristotelisch-thomasischen Ethik als Praxistheorie

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Die hier dargestellten antiken und mittelalterlichen Ansätze der Praxis kommen in mehreren Punkten überein:

1. Zentral für die Auseinandersetzung mit der Praxis ist es, eine Form von Wissen bzw. Erkenntnis auszubilden, die die konkrete Situation vor dem Hintergrund der jeweiligen Zielsetzung in adäquater Weise beurteilen kann. Diese Position bildet sich Schritt für Schritt weiter aus: Während Platon versucht, die für die Praxis relevante Wissensform an ein allgemeines Ideenwissen, insbesondere die Idee des Guten, zurückzubinden, betont Aristoteles den spezifischen Charakter der Klugheit als einer Erkenntniskompetenz, Einzelfälle aus einem tugendhaften, auf gute Ziele gerichteten Habitus konkret zu beurteilen. Bei Thomas von Aquin schließlich wird diese Fähigkeit wieder an das im Intellekt erkennbare ‚Naturgesetz‘ als universale Norm des Praktischen zurückgebunden, so dass die Klugheit aus den allgemeinen Zielen des menschlichen Lebens die Ziele konkreter Aktivitäten selbständig definieren kann. Aus der somit gegebenen Fähigkeit, Ziele in diesem Rahmen selbst zu definieren und zu entwickeln, entwickeln sich aus praktischer Rationalität die Fähigkeit zu individueller, selbstbestimmter Lebensführung.

2. Alle drei Autoren verbinden die Frage nach dem praxisrelevanten Wissen mit der Suche nach Tugenden, die auch die emotional-charakterliche Dimension des Menschen für die Erfordernisse der Praxis bereit machen. Gerade in diesem Bereich sucht Platon erkennbar nach dem rechten Verständnis: Mal betont er im Anschluss an Sokrates, dass rechte Erkenntnis gute Handlungen hervorbringt, mal löst er das menschliche Arbeiten am Angenehmen von dieser Bindung und entwickelt differenzierte Seelenmodelle. Bei Aristoteles werden diese auf das Strebe- und das Erkenntnisvermögen fokussiert, die wiederum durch die ethischen Tugenden und die diaonetische Tugend der Klugheit auf die Praxis ausgerichtet werden. Bei Thomas wird schließlich die Klugheit als ein Vermögen dargestellt, das auf der Grundlage allgemeiner Regeln guten Handelns sowohl individualethisch als auch politisch den jeweiligen Einzelfall adäquat im Hinblick auf die Frage, wie hier Gerechtigkeit hergestellt wird, beurteilen kann.

Diese Beobachtungen lassen die Bedeutung ermessen, die gerade die aristotelischen Theorien für jede Beschreibung von praxishafter Aktivität erhalten können. Diese ergibt sich im Grunde direkt aus der Struktur ihrer Handlungsbeschreibung selbst, stellt diese doch immer wieder klar, dass jegliche erfolgreiche |36|Praxis die Internalisierung angemessener Ziele voraussetzt, vor deren Hintergrund das konkrete Agieren erst seinen Nutzen und seinen Wert gewinnen kann; nicht zu vergessen ist dabei, dass ein Lebensvollzug stets auch von einem allgemeinen Verständnis vom menschlichen Glück her zu bewerten ist. Das Verdienst der thomasischen Ausarbeitung ist es, diese Einsicht vor dem Hintergrund differenzierterer Überlegungen zu den mannigfaltigen allgemeinen Zielen menschlichen Lebens und zu verschiedenen Formen von Rationalität so auszuarbeiten, dass die Wirkung der allgemeinen Prinzipien im Einzelfall und deren Grenzen deutlich wird.

Diese Überlegungen können ohne große Umwege zur kritischen Reflexion jeder Art von konkreter Praxis angewandt werden: Beispielsweise entscheidet sich der Nutzen einer didaktischen Methode daran, in welchen konkreten Unterrichtssituationen die Methode zu welchen konkreten Zielen überhaupt geeignet ist. Dies kann im Grunde nur von der individuellen praktischen Vernunft des Lehrers, der die Situation kennt, im Einzelfall beurteilt werden; dagegen wird, wie man gerade von Thomas von Aquin lernen kann, eine allgemeine Methodenreflexion nur zu Ergebnissen kommen, die in bestimmten Fällen nicht zutreffen und daher vom Handelnden variiert werden müssen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Das gleiche gilt für politische Gesetzgebungs- oder Verhandlungsprozesse, die ebenfalls stets an der Erreichung der von ihnen realisierten Ziele im Einzelfall zu messen sind und oft gerade daran scheitern, dass für die Praxis wesentliche Momente nicht beachtet werden (wozu ja häufig auch die fehlende Bereitschaft der Umsetzenden gehört, z.B. von DozentInnen, welche die Ansprüche z.B. des Bologna-Systems überhaupt nicht erfüllen wollen, was nicht zuletzt auf ihrer habituellen Kenntnis guter Lehrpraktiken beruhen dürfte). Insgesamt implizieren die genannten Ansätze eine Aufwertung der Entscheidungskompetenz im Einzelnen tätiger Akteure gegenüber Strukturen mit universalen Regelungsansprüchen der Praxis.

Damit soll keineswegs bestritten werden, dass eine normative Dimension, die allgemeine Ansprüche stellt, jeder Praxis inhärent ist. Diese wird von den hier diskutierten Ansätzen nicht so entfaltet, dass richtige Handlungen gleichsam aus allgemeinen Vernunftprinzipien deduziert würden. Für alle drei hier diskutierten Denker ist es nämlich nicht vorstellbar, Moralität in einem universalen Sollen zu fundieren, das per definitionem nicht Bestandteil des Strebens von Individuen und menschlichen Gemeinschaften zu einer erfüllenden, glücklichen Lebensführung ist. Bei den genannten Autoren werden also nicht nur thematisch andere Akzente gesetzt als z.B. bei Kant, sondern da die hier vorgestellten Ansätze strukturell ganz anders Vorgehen als dessen Theorie, sind sie, um ein Wort von Otfried Höffe umzudrehen, weniger korrespondierende als vielmehr konkurrierende Ethiken (Höffe 1971, 42). Allerdings scheint der Versuch interessant, die die thomasischen Überlegungen zur Vermittlung universaler Ansprüche und konkreter Praktiken zur Grundlage einer Untersuchung zu machen, wie ausnahmslos gültigen moralischen Normen der angemessene Platz in der dynamischen und |37|partikulären Entfaltung menschlicher Lebenswirklichkeit gegeben werden kann. Doch dies wäre Teil eines anderen, größer angelegten Projekts.

Lektüreempfehlungen

Die aristotelische Ethik ist ein steter Referenzpunkt praktisch-philosophischer Forschung, so dass es sehr viele gute Sekundärliteratur und Einführungen gibt. Auf Deutsch kann beispielsweise Wolf (2002) empfohlen werden, auf Englisch Pakaluk (2005). Für Platon, bei dem die Situation ähnlich ist, ist Kauffmann (1993), ein geeigneter Einstieg. Für die praktische Philosophie Thomas von Aquins ist das Material weniger uferlos. Hierzu können unter anderem Schröer (1995) sowie Perkams (2018) empfohlen werden. Thomas’ Verhältnis zu Aristoteles wird aus verschiedenen Warten diskutiert in Hoffmann/Müller/Perkams (2013).

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