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2.2. Zwei Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein: „Philosophie der Praktiken“ oder „Praxisphilosophie“

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Praxisphilosophie geht es (mit einer programmatischen Formulierung von Volker Schürmann) „nicht primär um das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft“ im Sinn individuell verstandener subjektiver Vermögen, „sondern um die Einbettung und damit Bedingtheit von Vernunft in ‚Geist‘, ‚Praxis‘, ‚Leben‘, ‚Gesellschaft‘“. Deshalb stellt sie „von einer […] Bewusstseinsphilosophie auf eine Philosophie des Geistes“ um (Schürmann 2017, 121). Hegel realisiert diese „Umstellung“ durch einen neuen Beschreibungsrahmen, der Tätigsein und Handeln in subjektiver, in objektiver und in unbedingter Perspektive thematisiert. Das korrigiert nicht den Gegenstandsbereich der aufklärerischen Vernunftphilosophie, sondern verändert die Art und Weise des Nachdenkens über vernünftiges Denken und Handeln. Man spricht aus der Perspektive eines exemplarischen, repräsentativen Teilnehmers über Vernunft als etwas, zu dem unsere Teilnahme – unbeschadet ihrer unbedingten objektiven Ansprüche – dazugehört.

|45|Das ist eine Praxisphilosophie, weil die Form solchen Teilnehmens an Vernunft praktisch ist – etwas, das getan wird. – Es geht in Hegels Überlegungen aber auch noch in einem anderen Sinn um „Praxis“: Nämlich in Bezug auf die rechtlichen, staatlichen, pädagogischen Institutionen (und ihre Geschichte), in denen sich das faktische Subjektwerden von Menschen und ihr Zusammenleben abspielt. Der Unterschied beider Akzente lässt sich markieren, indem man im ersten Sinn von einer „Praxisphilosophie“, im zweiten Sinn von einer „Theorie von Praktiken“ spricht. Als Praxisphilosophie gelesen macht Hegel mit der Auffassung Ernst, dass das Nachdenken über menschliche Angelegenheiten ein Nachdenken über Tätigsein ist (und eine verkomplizierende Konsequenz davon ist, dass dieses Nachdenken dann selbst als Exempel desselben Tätigseins begriffen werden muss). Als Theorie der Praktiken gelesen liefert Hegel begriffliche Modelle der sozialen Institutionen, in denen die Ausübungen der Vernunft verortet sind. Die Lesart als Praxisphilosophie bedeutet eine Veränderung des Stils und des Modus, in dem über die (stets mehr oder weniger vernünftigen) menschlichen Angelegenheiten nachgedacht wird: Nicht mehr ausgehend vom Modell der Subjekt-Objekt-Relation, sondern vom Vollziehen von Tätigkeit. Die Lesart als „Theorie von Praktiken“ beinhaltet (scheinbar bescheidener) keine andere Art und Weise, sondern nur einen veränderten Gegenstand des Nachdenkens: Hegel (so sagt man dann) empfiehlt uns, neben den üblichen subjektphilosophischen Themen auch (womöglich sogar insbesondere) über „Praxis“ nachzudenken.

Beide Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein hängen zusammen: Hegels radikale geistphilosophische Praxisphilosophie wäre ohne „Theorie von Praktiken“ eine blasse Konzeption situierter Vernunft, die nichts darüber sagt, wo sie situiert ist.

Dass auch eine „Theorie der Praktiken“ ohne Praxisphilosophie, ohne die reflexive Transformation des Beschreibungsrahmens, unsinnig wäre, ist umgekehrt viel weniger selbstverständlich, und hängt entscheidend davon ab, wie sehr Hegels methodische Umstellung auf den Rahmen des „Geist“-Sprachspiels überzeugt. Die fachphilosophische Kontroverse darüber wird immer noch von Deutungen bestimmt, die das „Geist“-Modell nicht als methodisches Mittel, sondern als eine Meinung Hegels lesen, die (in doxographischer Nacherzählung) zu tolerieren oder (in systematischer Fortführung) zu korrigieren wäre. Historisch sind solche Deutungen nachvollziehbar: Hegel entwickelt seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit den zeitgenössisch avanciertesten Vorschlägen – also an Kant, Reinhold, Fichte und Schelling, und sachlich am epistemologischen Modell von Subjekt und Objekt, das das nachkantische Problemfeld prägt. Teils wird er durch diesen Diskursrahmen und seine Redeweisen eingeschränkt und fehlgeleitet (so Adorno 1963); teils verdecken seine diskursiven Verstrickungen den innovativen Gebrauch, den er von beherzt umgewidmeten Begriffsmitteln macht (so Stekeler-Weithofer 2005, Kap. 1). Deshalb bleibt prekär, in welcher Betonung man Hegels Wortgebrauch hören und welchen systematischen Status man ihm zubilligen soll. Exemplarisch: In Hegels erstem umfassenden Entwurf einer Situierung der Vernunft in der Phänomenologie des Geistes (1807) geht es um den Begriff des Wissens – denn er beginnt methodisch bei der Thematisierung geistigen Tätigseins aus der Subjekt-Perspektive, und mithin bei der Frage, wie man um sein Tätigsein weiß. Es macht aber einen Unterschied, ob man die Phänomenologie als Antwort auf die (begriffliche) Frage „Was ist ‚Geist‘?“, oder auf die (epistemologische) Frage „Wie kann man ‚Geist‘ (überhaupt) erkennen?“ liest (vgl. etwa Emundts/Horstmann 2002, 36f., und mit derselben Strategie |46|Pippin 1989). Am Status, den man dem „Geist“-Modell zuschreibt, entscheidet sich so, ob man sich vom hegelschen Projekt eine Fortführung, eine Radikalisierung, oder eine systematische Überwindung der Kantischen Reflexionsphilosophie erhofft, und alle Urteile über sein Gelingen werden im Licht solcher Hoffnungen gefällt (vgl. exemplarisch Cassirer 1920, Henrich 1991, Halbig 2004, Pippin 2008, Förster 2010, Khurana 2017). Dabei hilft gewiss nicht, dass die Denunziation des „Geist“-Modells historisch mit politischen Transformationen koinzidierte (1848, 1871, 1917, 1968), während derer behutsame Lektüre nachvollziehbarerweise weniger drängte als identitätspolitische Abgrenzung.

Hegels „geistphilosophische“ Situierung der Vernunft provoziert zwei typische Abstossungsreaktionen: Man kann erstens meinen, das unter dem Titel „Geist“ Verhandelte sei im einfacheren Modell menschlicher Praxis eigentlich besser und sparsamer gefasst. Hegels Rede von „geistiger Tätigkeit“ wird dann übersetzt in die Vorstellung einer besonderen Lebens-Tätigkeit, und im Rahmen eines ethischen Naturalismus entfaltet (vgl. etwa Lukács 1948, 826ff. u. 1984, Kap. III; Arndt 2003, Kap. III; Pinkard 1994 u. 2012; immer noch wegweisend für das Nachdenken der in solchen Paraphrasen enthaltenen Naturvorstellungen Ruben/Warnke 1979). Man kann zweitens die Rede vom „Geist“ grundsätzlich suspekt finden, weil man ihre referentialistische Ausdeutung für unvermeidlich hält. Als Lackmustest für die Zumutbarkeit des „Geist“-Modells dient dann oft das, was man Hegels „Geschichtsphilosophie“ nennt: Wenn in das Sich-Selbst-Verstehen des Geistes eine Spannung zwischen subjektiver und objektiver Perspektive eingetragen ist, und wenn sich dieses Verhältnis in „absoluter“ Perspektive in unseren menschlichen Angelegenheiten selbst manifestiert – dann muss man provozierenderweise sagen, dass „der Geist“ eine Geschichte hat, in der er sich entwickelt und verändert. Und wenn man an dieser Stelle die methodische Umstellung auf „Geist“ nicht mitvollzieht, sondern als einen spleen Hegels versteht, dann behauptet Hegels „Geschichtsphilosophie“ in der Tat eine unbegründbare teleologische Ausrichtung historischen Geschehens, an deren Ende aus metaphysischer Notwendigkeit der „preußische Staat“, das „Ende der Kunst“, und die Selbsterhebung der „Philosophie“ über andere (religiöse, wissenschaftliche, ästhetische) Weltverhältnisse steht – anstatt das reflexive Durchprobieren von Modellen vorzuführen, in denen man über Geschichte, auch die des Geistes, nachdenken kann (vgl. zur ersten Lesart exemplarisch Honneth 2014, Schnädelbach 2000a oder Jaeschke 2010, 385, zur zweiten gelungen Pinkard 2017). Unter dem Druck dieses Verdachts wird Hegels Praxisphilosophie verbreitet als überambitioniert und „nicht aktualisierbar“ zurückgewiesen (vgl. etwa Siep 2010, Abschn. IIIc), seine Überlegungen zu einer „Theorie von Praktiken“ aber nutzbar gemacht. So kommt man um Hegels Revision der subdisziplinären Arbeitsteilung im Nachdenken über menschliche Angelegenheiten herum, und kann gleichwohl Lehren für Probleme der „theoretischen“ oder der „praktischen“ Philosophie ziehen. So wurde Hegels methodisch-metaphorische Rede von der „Entäußerung“ des Geistes an die Diskussion der sogenannten „Philosophy of Mind“ assimiliert und handlungstheoretisch nutzbar gemacht (vgl. Quante 1993 u. 2011, v.a. 324ff.; in kritischer Absetzung vom handlungstheoretischen Rahmen Yeomans 2015), oder – vor allem anhand der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) – in meta-ethische, moralpsychologische und sozialphilosophische Argumentationen integriert. In dieser Lektüre wird Hegels „Theorie des objektiven Geistes“ zum Stichwortgeber für eine Theorie der Praktiken (vgl. Schnädelbach 2000b), und genauer für den Gedanken, dass sich die politischen und sozialen Institutionen des Zusammenlebens als verhältnismäßig vernünftig so beschreiben lassen, dass mit ihrer Entstehung soziale Ansprüche verbunden sind. Der „objektive Geist“ betitelt dann die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen sich zu einander als Personen und zu sich selbst als Subjekte verhalten können. Er erklärt die Konstitution sozialer Praktiken (vgl. Honneth 2001, Abschn. 1), und zwar als eine Stufung verschiedener Sphären der Intersubjektivität, die die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und des (modernen) Staates zugleich hervorbringen und von ihnen gestützt werden (vgl. die aktuellste Fassung dieses Arguments in Honneth 2011). Eine solche Theorie des Sozialen ermöglicht es, indem sie die institutionellen und sozialen Bedingungen der |47|Entwicklung normativer Selbstverhältnisse nennt, Erfahrungen des Leidens und des Nicht- oder Fehlfunktionierens als diesen Institutionen immanente soziale „Pathologien“ zu problematisieren, und zugleich den vermeintlich „rechtfertigenden“ Status der hegelschen Beschreibungen des „objektiven Geistes“ zu vermeiden (vgl. in diesem Sinn Jaeggi 2014, Kap. 7).

Umgekehrt bliebe es unbefriedigend, wenn man Hegels „Theorie von Praktiken“ metaphysik-skrupulös einfach von seiner Praxisphilosophie entkoppelte. Einerseits wäre durchaus fraglich, ob Hegels Beschreibungen der (seither erheblich fortentwickelten) bürgerlichen Gesellschaft unverändert nützlich sind; immerhin wurde das Ungenügen seiner Beschreibung des entstehenden Kapitalismus bereits zeitgenössisch bemängelt. Es müsste zuerst gezeigt werden, dass seine „Theorie von Praktiken“ (etwa in den Grundlinien) beanspruchen darf, die institutionelle Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft im Wesentlichen erfasst zu haben (denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich an faktischen Institutionen zugleich ein normativer Anspruch identifizieren, an den eine kritische Theorie die bürgerliche Gesellschaft erinnert; vgl. Honneth 2001, 43). Andererseits muss eine Theorie von Praktiken den inneren Zusammenhang der vielen vielgestaltigen Praktiken erklären können; andernfalls wäre sie nur eine äußerlich sortierende „Gewürzkrämerbude“ (Hegel 1807, 50).

Hegels Vorschlag ist so aufregend, weil er verspricht, dass diese interne Verbindung im geistphilosophischen Darstellungsrahmen nicht bloß vorausgesetzt ist, sondern sich im wirklichen Vollzug geistiger Tätigkeit, in den Praktiken, exemplifiziert. In den mannigfaltigen Praktiken manifestiert sich die Form der Praxis im Allgemeinen; an unserem Tätigsein zeigt sich der interne normative Zusammenhang der menschlichen Angelegenheiten. Das ist eine vermutlich „anspruchsvollere“ Deutung (aber keine furchtbar heterodoxe: vgl. bei allen Unterschieden etwa Hubig 1985, Stekeler-Weithofer 2005 und 2014a, Menke 1996, Holz 2010, Arndt 2003, Pinkard 2012 u. 2017, Weisser-Lohmann 2011, 264ff.). Zu ihren Begründungshypotheken gehören wenigstens drei Posten: Erstens liest sie Hegels Texte im interessierten Rückblick als gleichberechtigte Beiträge zu einem kontinuierlichen Projekt und bleibt deshalb, weil sie dabei über manche biographische Brüche hinwegsieht, wie jede systematische Aneignung philologisch anfällig. Zweitens schreibt sie Hegel aus Interesse an einer undogmatischen – nicht im Sinne unbegründbarer Meinungen – „metaphysischen“ Geistphilosophie eine (freilich auf seine Selbstkommentierung gestützte) reflexiv-ironische Aufmerksamkeit für seinen eigenen Sprachgebrauch zu – was seine Überlegungen als besonders anfällig für die entstellenden Effekte jeder Paraphrase erscheinen lässt. Drittens ist die hegelsche Praxisphilosophie, weil sie einen methodischen Umweg beschreitet, auf die Geduld ihrer Leserinnen angewiesen: Ihre Radikalität liegt nicht in der direkten Beschreibung von Praktiken, sondern darin, die Tätigkeit solchen beschreibenden Nachdenkens, die Vernunft selbst, als „praktisch“ zu begreifen. Die Theorie von Praktiken hätte erst im zweiten Schritt dem Nachdenken darüber zu folgen, wie man vernünftig über Praktiken reflektieren kann, indem man in sie verstrickt ist. Deshalb fehlt sie in dieser Darstellung fast gänzlich.

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