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|49|3.1. Konstitutionstheorie oder Formreflexion: Wie lässt sich die „Wirklichkeit der Vernunft“ verstehen?
ОглавлениеAuf den ersten Blick führt die Frage, wie man „den Geist“ als „bei sich im Anderen“ versteht, direkt in eine Sackgasse. Man kann unsere menschlichen Angelegenheiten nicht einfach auf eine subjektive Konstitution zurückführen. Man müsste sich dann die Normen, an denen sich die Güte subjektiver Aktivität vernünftigerweise beurteilen lassen muss, als von derselben Aktivität konstituiert vorstellen, die sie bemessen – so würden vernünftiger Vollzug und eitle Selbstermächtigung ununterscheidbar. Die geistphilosophische Umformulierung ändert an dieser Folgerung scheinbar nichts: Zwar bezieht sich der Ausdruck „Geist“ nicht mehr (einfach und nur) auf individuelle „Subjekte“, sondern ist ein sachliches Scharnier zwischen der Rede über „je mein“ geistiges Tun, und der Rede über überindividuelle „soziale“ Vollzügen aus einer generischen „Wir“-Perspektive (vgl. exempl. Stekeler-Weithofer 2005, 48f.). So ermächtigt sich aber lediglich ein anderes, höherstufig-generisches eitles Subjekt selbst – nämlich „das geistige Tätigsein“, das beständig seine eigene Praxis schafft. Man hätte zwar die Vernunft situiert (im Verhältnis zwischen individuellen Vollzügen und den normativen Institutionen), alle vernünftigen Geltungsansprüche aber relativiert. Denn die Normen, unter denen unsere individuellen geistigen Vollzüge „besser“ und „schlechter“ sind, wären nach diesem Bild das Produkt der gemeinsamen Praxis: bloße Konventionen, deren „Geltung“ in ihrer Genese gründete.
Diese Konsequenz ergibt sich aus einer Lesart der hegelschen Situierung der Vernunft, die verlockend, aber weder notwendig noch (letztlich) überzeugend ist. Man kann sie konstitutionstheoretisch nennen: Sie versteht Hegels Modell der „Aktivität des Geistes“ als Antwort auf die Frage, wie die Vernünftigkeit unserer Vollzüge zustandekommt. Diese Frage nach dem Zustandekommen vernünftiger Vollzüge ist aber nicht dieselbe wie die nach der Form, in der sie wirklich sind (nach ihrer „Seinsweise“).
Diese konstitutionstheoretische Lesart Hegels erklärt seine Attraktivität für moderne Praxistheorien. Sie beschreibt Vernunft – ihre Gestalt, ihre interne Normativität, ihren Zusammenhang – als das Produkt sozialer Praktiken, und erklärt die Konstitution begrifflicher Gehalte wie die Konstitution praktischer Gründe, indem sie die sozialen Praktiken rekonstruiert, die ihre notwendigen und hinreichenden Bedingungen sind; und sie erklärt die normative Gestalt dieser Praktiken, indem sie sie als durch die individuellen Vollzüge bedingt versteht, aus denen die Praktiken fortwährend hervorgehen (vgl. exemplarisch Pippin 2008 und 2010). Diese Beschreibung der „Performativität“ von Praxis (s. Volbers 2014, Kap. 3.4) macht klar, dass das Mitwirken anderer Subjekte eine Bedingung für das Gelingen subjektiver Vollzüge ist; sie erklärt, wie die Ansprüche einer situierten Vernunft uns nicht wie „von außen“ betreffen, sondern dadurch, dass sie in dieser Praxis eine Rolle spielen, die ihrerseits durch „unser“ Tun und Handeln bewirkt |50|ist. Es wäre sinnlos, von der Vernunft und ihren Ansprüchen unabhängig von dieser sozialen und geschichtlichen Situiertheit zu reden.
Damit erbt die konstitutionstheoretische Lesart als Variante des hergebrachten Modells konstitutiver Subjektivität aber auch deren doppeltes Defizit (vgl. Cassirer 1920, 280f.): Erstens entgeht sie dem geltungstheoretischen Zirkel nicht, sondern deutet ihn nur zur „Performativität“ um. Die Idee „vernünftiger Ansprüche“ geht dabei aber entweder im Kollaps in einen relativistischen Historismus verloren, oder muss einen vorkritischen Gegebenheitsdogmatismus reaktivieren. Zweitens macht die konstitutionstheoretische Lesart die neue, durch das „Geist“-Modell ermöglichte Perspektive wieder rückgängig: Sie fragt nicht nach der wirklichen Form unserer geistigen Vollzüge, sondern übersetzt diese Frage in die nach der (faktiven oder logisch bedingenden) Herkunft dieser Wirklichkeit zurück. So zu fragen heißt aber, als Prinzip unserer geistigen Vollzüge eben gerade nicht sie selbst, sondern etwas anderes aufsuchen: das, was sie „konstituiert“ und worauf zurückbezogen sie gedacht werden müssen.
Diese Umformulierung der Frage unterläuft der konstitutionstheoretischen Lesart, weil sie die Radikalität der geistphilosophischen Umstellung unterschätzt. Sie schließt aus (erstens) dem Gedanken, dass die Idee von Vernünftigkeit nicht unabhängig von einer Vorstellung ihrer Wirklichkeit in geistigen Tätigkeiten gefasst werden kann, und (zweitens) der Einsicht, dass die Vorstellung von einer Ausübung geistiger Tätigkeiten allemal an unsere menschlichen Angelegenheiten gebunden bleibt, weil unsere Praxis eben (wirklich und unhintergehbar) das Medium jeder Vorstellung von „Vernunft“ ist, dass (folglich) vernünftige Ansprüche an unser Denken und Handeln als letztlich kontingente, jedenfalls willkürlich veränderliche Produkte unserer Praxis verstanden werden müssten (vgl. Schürmann 2015b, 170ff.). Die Alternative zur Frage nach der Konstitution der Vernunft ist die Frage nach ihrer Form: danach, was die Vernünftigkeit unserer Vollzüge ist. Statt nach den Gelingensbedingungen faktischer, einzelner geistiger Vollzüge wird gefragt, was es überhaupt heißt, geistige Vollzüge als gelungen zu begreifen. Im ersten Fall wird man Bedingungen zu formulieren versuchen, unter denen ein Vollzug φ als mehr oder weniger gelungen beurteilbar ist. Im zweiten Fall wird man „das wirkliche φ-en“ durch die Spannung zwischen der Beschreibung meines subjektiven Vollzugs und der allgemeinen Form des φ-ens. Man wird Vernunft als das Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist erläutern, und zwar anläßlich und anhand meines konkreten, situativ eingebetteten und überbestimmten φ-ens.
Konstitutionstheorie und Formreflexion ähneln sich sehr: Beide verstehen die Sozialität der Vernunft als begrifflich an soziale Vollzüge gebunden, und beide verstehen die Normativität der Vernunft also genealogisch bestimmt (vgl. Menke 2005, Khurana 2017). Beide Lesarten schließlich erklären die Konstitution begrifflicher Gehalte im theoretischen wie praktischen Denken „holistisch“, durch nichts anderes als den Bezug auf soziale Praktiken (vgl. Bertram 2002). Sie |51|unterscheiden sich aber darin, womit sie anfangen, und worin sie ihr (geglücktes) Ende erwarten.
Die konstitutionstheoretische Lesart beginnt mit einer Theorie von Praktiken: einer faktiven Beschreibung von Institutionen, auf die sie die Kraft normativer und begrifflicher Ansprüche zurückführt. Die formreflexive Geistphilosophie zielt auf die wesentliche Spannung (das „dialektische Verhältnis“) zwischen dem (unbedingten, zeitenthoben-objektiven) Anspruch theoretischer und praktischer Gründe einerseits, und andererseits dem Umstand, dass solche Ansprüche nur in einer spezifischen (historischen, sozialen, denkerischen) Situation bestehen, indem sie sich an mehr oder weniger vernünftigen Vollzügen exemplifizieren. Ihr glückliches Ende hat solche Formreflexion in dem Gedanken, dass ein subjektiver geistiger Vollzug dann „gut“ ist, wenn er den objektiv repräsentierten Normen des überindividuellen, allgemeinen Tätigseins entspricht, und diese Entsprechung besteht, wenn der Gedanke an die Norm diese Norm selbst objektiv vorstellt und erfüllt. Im geistigen Tun „bei sich im Anderen sein“ heißt, die Form des Gedankens, den man fasst, als Exempel des wirklichen Vollzugs geistigen Tätigseins begreifen.
Hegels geistphilosophische Umformulierung will Tätigkeit in ihrer wirklichen, aktuellen Ausführung begreifen. Sie ist deshalb nicht bloß ein geistesgeschichtlicher Bezugspunkt der auf sie reagierenden materialistischen Positionen (vgl. weiter Schürmann 2017, 126ff.), sondern (jenseits der schiefen, ideologisch dem neuzeitlichen Empirismus verpflichteten Sortierung „idealistischer“ vs. „materialistischer“ Philosophien) auch sachlich das Urbild einer wahren (nämlich einer mit idealistischen Mitteln formulierten) materialistischen Praxisphilosophie (vgl. Holz 2010; Rödl 2007, 14f.). Womit aber fängt diese auf das Begreifen der Form wirklichen geistigen Tätigseins zielende Praxisphilosophie an?