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5. Sittlichkeit: Die Idee der Praxis

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Hegel nennt die Idee wirklichen Gelingens geistigen Tätigseins „Sittlichkeit“: „Die Sittlichkeit“, heißt es in der Enzyklopädie, „ist die Vollendung des objektiven Geistes, die Wahrheit des subjektiven und objektiven Geistes selbst“ – dasjenige, worin die beiden Perspektiven allererst verständlich werden, nämlich als Perspektiven auf das selbe Leben. Beide Perspektiven auf geistiges Tätigsein waren einseitig gewesen. Die Perspektive des „objektiven Geistes“ krankte daran, „seine Freiheit“, d.h. sein Wirken in unseren menschlichen Angelegenheiten „unmittelbar in der Realität, daher im Äußeren, der Sache, teils in dem Guten als einem abstrakt Allgemeinen zu haben“: die objektive Perspektive schwankte dazwischen, einerseits der Bezug auf eine bloß „unmittelbar“ vorliegende Norm (als Konvention oder Anrufung eines „Das macht man so“) zu sein, mit diesem Bezug aber andererseits die Autorität einer tatsächlich objektiven und notwendigen Norm zu beanspruchen. – Die „Einseitigkeit des subjektiven Geistes“ war umgekehrt gewesen, „abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelheit selbstbestimmend zu sein“: das ist das Dilemma in der Vorstellung einer rein subjektiven Selbstbestimmung, in der die beanspruchte Gutheit des „Gewissens“ und die Bösheit schierer Selbstüberhöhung ununterscheidbar werden, und mit dem die praxisphilosophische Rekonstruktion ja gestartet war. Sind beide „Einseitigkeiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung wie seine Betätigung und unmittelbare |69|allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, – die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden“ (Hegel 1830, § 513).

Man hat diesen Bezug auf die „allgemeine Wirklichkeit als Sitte“ oft faktiv gelesen – als Bezug auf vorliegende Konventionen und Sitten, die den Subjekten auf dem Weg ihrer Erziehung und Ausbildung, ihrer Subjektwerdung, zur Gewohnheit geworden sind. Wäre das gemeint, dann wäre es in der Tat eine starke Behauptung, dass sich in diesem ganz und gar zufälligen, und darüber hinaus schon für Zeitgenossen augenfälligerweise kaum durchgängig „guten“ Ensemble von Praktiken, Gebräuchen und Normen so etwas wie ein „allgemein vernünftiger Wille“ ausdrücke. Man müsste dafür bereit seit sein, entweder bloß Faktisches als „vernünftig“ anzuerkennen, und das heißt notwendig zu legitimieren (was sich letztlich wohl nur theologisch bewerkstelligen ließe, vgl. Siep 2000, 215), oder aber einen vorliegenden Komplex von Sitten als letztlich doch gerechtfertigt wie eine überhistorische Struktur zu konzipieren, die sich nur beiläufig in den jeweils „aktuellen“ Sitten einer Zeit oder einer Gesellschaft ausdrückt (vgl. Jaeschke 2010, 385).

Abermals ist es Hegel nicht um die Behauptung zu tun, dass solche Sittlichkeit irgendwie unproblematisch vorliegt. Hier wie im Vorigen geht es nicht um die Erklärung einer Genese der praktischen Vernunft, sondern um die Frage, wie man denken kann, dass sie wirklich ist. Man versteht diese Wirklichkeit, wenn man die perspektivische Spannung, die geistige Vollzüge auszeichnet, als situativ „aufgehoben“, irrelevant und verschwindend denken kann. „Sittlichkeit“ ist damit der Name nicht für eine Sammlung von (wo auch immer herrührenden) Normen, sondern für die Art und Weise, in der sie da sind: nämlich im Vollzug des Handelns unmittelbar. So erscheint das Sittliche, wie Hegel an einer Parallelstelle der Grundlinien schreibt, „in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen […] als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist“ (Hegel 1821, § 151). In Praxis, so wurde sichtbar, „manifestiert“ sich „der Geist“ – und zwar als die Spannung zwischen subjektiver, intersubjektiver und objektiver Perspektive auf unser Tätigsein. Damit dieses geistphilosophische Modell aber nicht einfach nur eine weitere „neutrale“ Beschreibung, eine Theorie von Praktiken ist, muss es beanspruchen, ein Modell für die situierte Vernunft zu sein. Mit anderen Worten: Wenn Hegel verständlich machen möchte, dass Vernunft überhaupt nur als situierte, sich also in unserer Praxis manifestierende gedacht werden kann, dann muss seine Rekonstruktion der Elemente der Praxis – der verschiedenen Aspekte, in denen die geistige Tätigkeit im Vollzug erscheinen und als Vollzug thematisiert werden kann – auf eine Perspektive hinauslaufen, in der man die Praxis selbst zum Subjekt der Beschreibung macht. Warum? Weil man dann eine Beschreibung der Praxis geben kann, in der sie sich selbst im Verhältnis zu ihren internen Normen und zu allgemeinen, vernünftigen normativen Ansprüchen reflektiert. Man kann dann, meint Hegel, eine – notwendig metaphorische – Beschreibung geben, in der sich die Vernünftigkeit der Praxis in ihrem eigenen Vollzug manifestiert.

|70|Die Gestalt schließlich, in der sie als unmittelbar im Vollzug gelingend vorgestellt werden kann, ist die Sittlichkeit: „Die Subjektivität [die geistige Tätigkeit im Allgemeinen, die Praxis als Subjekt ausgesprochen] ist selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz“, also der wirklichen Normen der Praxis. Sich eine solche Sittlichkeit vorstellen wiederum heißt, sich eine Praxis vorstellen, in der die perspektivische Spannung, die unsere geistigen Vollzüge wesentlich charakterisiert, durch die Art und Weise, in der wir sie vollziehen, im Verschwinden begriffen ist, sodass „der Unterschied des [handelnden] Subjekts von […der Sittlichkeit] als seinem Gegenstande, Zwecke und Macht […] nur der zugleich ebenso unmittelbar verschwundene Unterschied der Form“ ist (Hegel 1821, § 152). Auf individueller Ebene ist das das tugendhafte Leben, in dem man sich die Normen des guten Handelns und des angemessenen Urteilens (selbst auf gute Weise) zur Gewohnheit, zur „zweiten Natur“ macht. Als eine „Subjektivität, die von dem substantiellen Leben durchdrungen ist“, handelt die Tugendhafte unmittelbar gut, aber eben nicht bloß aus Gewohnheit, sondern aus zur Gewohnheit gewordener Vernünftigkeit (Hegel 1830 § 516). Dem entspricht auf überindividueller Ebene das Bild der Sittlichkeit – einer Praxis, in der objektiver Vernunftanspruch, intersubjektive Koordination und subjektives Selbstverhältnis unmittelbar zusammenstimmen.

„Sittlichkeit“ zeichnet so das Bild eines Zustandes, das unmittelbar schief ist: Denn erstens ist dieses unmittelbare Zusammenstimmen der gespannten Perspektiven auf unser Tun und Handeln, auf unser geistiges Tätigsein etwas, das sowohl praktisch wie auch begrifflich die Ausnahme, das Erklärungsbedürftige ist. Wenn stimmt, dass unsere Begriffe vom Vollzug und vom praktischen Wissen gerade durch die Spannung dieser Perspektiven definiert sind, dann gibt es, streng genommen, in der Situation sittlich gelingender Praxis kein Handeln und kein praktisches Wissen; diese Phänomene können dann schlechterdings nicht auftauchen. Das folgt aus dem Bild der „Sittlichkeit“ als eines unmittelbaren Zustands – ein Bild des Gelingens, das sich im Subjektiven an der Unmittelbarkeit der Gewohnheit orientiert, und im Gemeinsamen an der Vorstellung einer gänzlich konfliktfreien Tugendgemeinschaft. – Umgekehrt ist ein solches Bild gerade in seiner Schiefheit unvermeidlich; denn es komplettiert die Erläuterung von Vernunft als etwas, das überhaupt nur in unserer Praxis als existierend gedacht werden kann, und zu deren Daseinsweise zugleich gehört, dass sie nicht aufgeht im Gesamt derjenigen Vollzüge, Meinungen und Sitten, die sie manifestieren. Es ist auch deshalb unvermeidlich, weil die Idee der („theoretischen“ wie „praktischen“) Tugenden, also die Idee eines im Gelingensfall unmittelbaren, inter- wie intrasubjektiv leidensfreien und vernünftigen geistigen Tätigseins, nur vor dem Hintergrund einer solchen Idee von Sittlichkeit, also der Vorstellung ihrer situativen Wirklichkeit, überhaupt formulierbar ist (vgl. Gobsch 2014). Man darf nur der Suggestion dieses Bildes nicht nachgeben und meinen, dieser „verschwundene Unterschied der Form“ dürfe als bestehender faktischer Abschluss, oder zumindest etwas auf einen solchen Abschluss teleologisch Hinzielendes verstanden |71|werden (siehe oben, Abschn. 3.1. u. 4.1.). Liest man Hegels Praxisphilosophie so, wie es hier umrissen wurde, materialistisch, dann wird man gegen eine solche Tendenz daran erinnern, dass die Spannung zwischen den Perspektiven auf unser geistiges Tun diesem Tun wesentlich ist. Es gehört zu seinem Begriff, sich in einer solchen potentiell konflikthaften Gestalt zu manifestieren.

Hegel führt diese konflikthafte Gestalt detaillierter am bürgerlichen Recht als der Realisierungsform unserer Praxis vor, und die eigentlich unentschuldbare Aussparung der Rechtsform aus dieser Skizze der hegelschen Praxisphilosophie hat den Preis, dass sie ein unangemessen abstraktes – nämlich von einer zentralen Bestimmung des sittlichen Mediums unserer konkreten menschlichen Angelegenheiten absehendes – Bild zeichnet. Die Aussparung motiviert sich durch die ungeheure Breite, die im Forschungs- und Aneignungsdiskurs der Zusammenhang von „Recht“ und „Moral“ und von „Sittlichkeit“ und „Politik“ einnahm (vgl. nur Menke 1991, 1996 u. 2018, Weisser-Lohmann 2011), und der zur Frage nach dem systematischen Kern von Hegels Praxisphilosophie nicht unmittelbar beiträgt. Trotzdem wird alles falsch, wenn er einfach fehlt, weil erst mit den Details der Rechtsphilosophie die Form des gemeinsamen Lebens, auf die Hegel abzielt, als eine gesellschaftliche, genauer: eine republikanische Form verständlich wird, und erst in diesem Licht die problematischen Aspekte an der Figur der „Sittlichkeit“ – etwa ihre vormodernen Konnotationen – unübersehbar werden (vgl. Novakovic 2017).

Deshalb ist die Figur des Verzeihens, mit der die Erzählung von der „Bewegung des Anerkennens“ endete, für Hegels Praxisphilosophie emblematisch. Sie ist nur vor der begrifflichen Folie einer Idee der Sittlichkeit, oder einer Idee des gelingenden gemeinsamen Lebens verständlich, und ihre Beschreibung selbst exemplifiziert diese Idee. Sie versteht zugleich die Wirklichkeit solchen Gelingens als prekär, weil die normative – aus unpersönlicher Perspektive „moralische“, aus individueller Perspektive „ethische“ – Problemlage irreduzibel nur zur Erscheinung kommt in, und also immer bestimmt bleibt durch, die konkrete Beziehung zwischen Individuen. Deren Beziehung betrifft deshalb, weil sie im Horizont der objektiven normativen Ansprüche steht, die die Situation exemplifiziert, auch die Art, in der sie um sich wissen und sich zu sich selbst verhalten, wie sie – ganz konkret und bis in ihre affektive Leiblichkeit hinein – selbstbewusst sein können. Die Figur des Verzeihens macht so die Wirklichkeit einer praktischen Situation anschaulich, die die Form ihres Gelingens manifestiert, ohne selbst gelungen zu sein; sie verdeutlicht, wie die glückliche Auflösung einer solchen Situation auf das Tun und Handeln der beiden Beteiligten angewiesen ist (und ohne es sich nicht einstellen kann), ohne andererseits der Ideologie reiner praktischer Selbstbestimmung Vorschub zu leisten, weil die glückliche Auflösung nie von subjektivem Tun allein „bewirkt“ wäre. Und schließlich führt die Figur vor, dass die Vorstellung von Sittlichkeit, unmittelbar gelingender Praxis, allemal zurückverwiesen bleibt auf das praktische Medium der Artikulation und Überwindung dieser Unmittelbarkeit. Verzeihen ist, als Koinzidenz praktischer Haltungen, auch die Koinzidenz verzeihender Reden oder logoi; und das ganze Projekt der hegelschen Praxisphilosophie fokussiert auf solche Artikulation der Praxis. „Wir sehen hiermit wieder die Sprache als das Dasein des Geistes“, in dem die gespannten Perspektiven auf das Tätigsein, und damit das Tätigsein selbst, seine anschauliche, gegenständliche, |72|wißbare – und damit erst potentiell selbstbewusste – Form manifestiert. Im Miteinander-Sprechen „vernimmt [ein Selbst] ebenso sich, als es von den anderen vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein“ (Hegel 1807, 478f.). Darin, dass Hegel solche Situationen als eine angemessene Exemplifikation der Form wirklichen menschlichen Tätigseins – jenseits konstitutionstheoretischer Zurückführungssehnsüchte, jenseits empiristisch vorausgesetzter Sachgebietsunterscheidungen wie „Handeln“-„Denken“, „Vernunft“-„Gefühl“, schließlich jenseits naturalisierender oder theologisierender Großerzählungen – ausschließlich aus der Immanenz unserer wirklichen Lebensvollzüge entwickelt, und diese Selbstreflexion unserer Praxis als Form und Gehalt von Vernunft verständlich macht, liegt seine kolossale Zumutung an unsere denkerische „Unbefangenheit“, und seine Bedeutung für jede Praxisphilosophie.

Lektüreempfehlungen

Den vielleicht mitreißendsten Einstieg in sein Nachdenken über Praxis bietet Hegels Phänomenologie des Geistes. Der einführende Kommentar von Bertram (2017) eröffnet eine praxisphilosophische Perspektive auf den Text; der ausführliche und anspruchsvollere Stellenkommentar von Stekeler-Weithofer (2014a) situiert ihn in modernen Debatten der Handlungstheorie und der philosophy of mind. Über Hegels Projekt im Ganzen orientieren einführend Taylor (1975) und die zugängliche Studie von Henrich (1991), sowie – in englischer Sprache – die Arbeiten von Pinkard (1994 und 2012) und Pippin (2008); sie empfehlen sich besonders wegen ihrer sprachlichen und terminologischen Unbeschwertheit. Für gegenwärtige Debatten fruchtbare Anschlüsse zeigen schließlich beispielhaft Menke (1996 u. 2018, über die problematische Rolle der Sittlichkeit für die moderne Moralphilosophie) und Honneth (2001, mit einer am Problem der Anerkennung interessierten Einführung in Hegels Rechtsphilosophie).

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