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4.1. Der Anstoß: „Praktische Vernunft“

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Auch die Praxisphilosophie beginnt mit der Subjektperspektive. Denken (und Handeln) tauchen in ihrer „am nächsten liegenden Vorstellung […,] in [ihrer] gewöhnlichen subjektiven Bedeutung“ auf: „Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich“ (Hegel 1830, § 20). Noch bevor man fragt, wie sich die Normativität geistiger Tätigkeit objektiv vorstellen lässt, muss man Denken eben als mein Denken, und „ich“ mich als Subjekt meiner eigenen Selbstbestimmung auffassen.

Fragt man sich aber, wie in einer Situation richtig und gut zu handeln wäre, dann verstrickt man sich mit diesem „unbefangenen“ subjektiven Selbstverständnis unversehens im leeren Formalismus des „moralischen Bewußtseins“ (vgl. etwa Yeomans 2015, Kap. 2). Warum? – „Sich selbst bestimmen“ heißt, das eigene Handeln und Wollen an einem Gut zu orientieren, das als zugleich objektiv und anerkannt vorgestellt werden muss und daher „die Bestimmung der allgemeinen abstrakten Wesentlichkeit – der Pflicht“ hat (1821, § 133). Das ist Kants Einsicht: Nur Pflicht orientiert intern und notwendig. Der Gedanke ist aber, meint Hegel, durch seine Abstraktheit ambivalent: „So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben […], so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts […] diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus […] herunter“ (Hegel 1821, § 135). Setzt man „unbefangen“ bei sich als „Subjekt“ an, dann bleibt in konkreten Situationen unklar, ob ein Gut, oder ob ich die Quelle der Notwendigkeit bin, die mich zum Handeln nötigt. Der Gedanke der Pflicht in seiner nötigenden Allgemeinheit ist leer; er sagt nicht, wen er zu was genau zwingt. Man könnte deshalb – immer noch |58|ganz „unbefangen“ überlegend – die Aufgabe, in einer Situation auch inhaltlich zu sagen, wozu man vernünftigerweise verpflichtet ist, in „die Besonderheit überhaupt [… verlegen,] in die Subjektivität […] – das Gewissen“. Denn im Akzent auf die Vernünftigkeit des Wollens fokussiert man „nur die formelle Seite der Tätigkeit des Willens, der als dieser [d.h. als ein bestimmter Wille] keinen eigentümlichen Inhalt hat“ (Hegel 1821, § 136–37). Die inhaltliche Bestimmung (das Gewollte, und die affektive Tönung des Wollens) muss deshalb von anderswoher rühren – und woher naheliegender als aus unserer unergründlichen Individualität?

„Gewissen“ ist hier der Titel für gesinnungsmäßiges Wollen. Mit dem Verweis auf das Gewissen beansprucht man „die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins […], nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist“. Der Verweis aufs Gewissen ist indes ambivalent: er muß Angemessenheit, „Wahrheit“ beanspruchen, kann sie aber nicht einlösen. Denn „ob das, was [ein Individuum] für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden“. Wenn aber der Inhalt das Maß für die Güte des Wollens ist, dann kann er gerade nicht rein individuell bestimmt sein, sondern muss die Form „von allgemeinen, gedachten Bestimmungen“ haben, die „Form von Gesetzen und Grundsätzen“ (Hegel 1821, § 137 u. Anm.). Der unbefangene Anfang beinhaltet die Spannung, dass das so vorgestellte gewissenhafte Subjekt zugleich „die urteilende Macht“ sein soll, die sagt, was zu tun gut ist, und „die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und sein sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt“ (Hegel 1821,§ 138). Man verstünde sich zugleich als nach Normen urteilend, und darin als die Quelle der Kraft, die diese Normen zum Maßstab macht, an dem sich Urteile orientieren können. Beim Versuch, sich selbst als Quelle seines guten Handelns zu verstehen, entdeckt der „unbefangene“ Anfang so, dass das Gewissen „als formelle Subjektivität schlechthin [… immer] auf dem Sprunge […ist], ins Böse umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben beide, die Moralität und das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel“ (Hegel 1821, § 139 Anm.).

Wenn gewollt wird, will jemand etwas; man bekommt den konkreten wollenden Menschen nicht aus der Vorstellung vom „Wollen“ heraus. Für Kant war es gerade ein Clou der Moralbegründung, dass die Rede vom „reinen Willen“ eine Abstraktion ist, die es uns erlaubt, zwischen dem universellen Anspruch „an sich guten Wollens“ und seiner Exemplifikation in Leuten wie uns zu unterscheiden. Hegels Analyse des „Gewissens“ zeigt aber, dass diese Abstraktion von der „natürlichen“ Besonderheit wollender Menschen etwas ausblendet, was zum endlichen Wollen doch wesentlich dazugehört: Weil zur Natur von Menschen gehört, dass sie geistig tätig sind, sind ihre „natürlichen“ Triebe und das vernünftige Wollen verbunden – vernünftiges Wollen ist nicht „rein“, sondern die Transformation des natürlichen Triebs (vgl. Hegel 1830, § 474 Anm.). „Der Mensch ist […] zugleich sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion in sich böse“ (Hegel 1821, |59|§ 139 Anm.): „Böse“ ist es, sich seinen vermeintlich „bloß natürlichen“ Trieben zu überlassen; spiegelbildlich „böse“ ist es, zu meinen, man könne sich in völliger Abstraktion von seiner eigenen natürlichen Wirklichkeit zum Repräsentanten des „reinen Willens“ aufschwingen, und das konkrete normative Maß guten Handelns dabei nur dem eigenen „Gewissen“ entnehmen. Man muss sich, wenn man „unbefangen“ anfängt, als sich selbst bestimmendes Selbstbewusstein verstehen: als Subjekt praktischer Vernunft. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben: Denn die Wirklichkeit praktischer Vernunft, die man so denkt, enhält ununterscheidbar „ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine als die Willkür“, oder „die eigene Besonderheit […] zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein“ (Hegel 1821, § 139; vgl. Hegel 1830, § 511).

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