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4.2. Die Gewohnheit des Guten: Die geistige Durchbildung des Natürlichen

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Hegels „unbefangener“ Beginn der Praxisphilosophie stößt schon im ersten Schritt auf das Dilemma, wie man sich als Subjekt seines Denkens und Handelns so verstehen kann, dass man unter Normen steht, und zugleich Ursprung dieser Normen ist. Beides ist notwendig: Man muss seine Vollzüge als unter Normen stehend begreifen können, damit man sie als „besser“ oder „schlechter“ verstehen kann; diese Normen können einem nicht völlig äußerlich sein, weil sie sonst mit dem eigenen Tätigsein nur noch beiläufig zu tun hätten. Muss man aber so grundsätzlich einsteigen, dass dieses Dilemma unausweichlich scheint?

Tatsächlich kennen wir das Phänomen eines normativen Tätigseins, bei dem wir (in einer bestimmten, aber nicht nebensächlichen Hinsicht) buchstäblich selbst die Quelle der Normen sind, unter denen wir stehen – nämlich das Tätigsein aus Gewohnheit. Ganz analog zur aristotelischen Erläuterung der Tugend (vgl. auch Haase 2017) versteht Hegel Gewohnheit als eine gestaltete, erworbene Disposition zum Tätigsein: keine einfach „natürliche“ Disposition, sondern eine, die durch die Bearbeitung und Transformation solcher natürlichen Dispositionen entsteht. Der Erwerb solcher Gewohnheiten ist leicht begreiflich: Sie entstehen durch Übung, durch Wiederholung, manchmal durch Lehre und Anleitung. Aufregend ist, wie sie funktionieren, wenn sie bestehen: Sie gehen einem Menschen buchstäblich „in Fleisch und Blut“ über und gehören zu seiner Leiblichkeit. Wer gewohnheitsmäßig eine Tätigkeit φ ausführt, der stößt ihr eigenes φ-en in bestimmter Weise zu (sie kann sich zum Beispiel über ihr φ-en wundern). Und in einem bestimmten Sinn ist nicht sie das Subjekt dieses φ-ens, sondern ihre Gewohnheit: Beurteilt man z.B. ihr φ-en als schlecht, dann entschuldigt sie (in einem gewissen Grad) die Auskunft, sie habe „aus Gewohnheit so“ ge-φ-t (weil nicht ihr aktuelles Tun, sondern die Art und Weise der Gewöhnung zu tadeln ist). In der Gewohnheit ist einem die eigene Tätigkeit, das eigene Denken unmittelbar: Man tut und denkt, aber man ist nicht bei seinem Tun und Denken, sondern bei |60|dessen Gegenständen. Hegel nennt diese Unmittelbarkeit des eigenen Denkens Seele; und „Seele“ ist nur vorstellbar als verkörpert: als beseelter Leib. (In Hegels Formulierung: „Seele“ ist die „ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit […], wie sie in ihrem an sich seienden Begriff […] nur die Substanz derselben als solche war“; Hegel 1830, § 409.)

Man weiß in der Ausübung der Gewohnheit nicht um sich (allenfalls hat man, sagt Hegel, ein „Selbstgefühl“); trotzdem muss man sich im Zweifelsfall das, was man aus Gewohnheit getan hat, als eigenes Tun zuschreiben, und sich also auch zuschreiben, dass man es unmittelbar auf eine gewisse Art und Weise, nämlich gewohnheitsmäßig besser oder schlechter getan hat. Und in dieser unmittelbaren, nicht-bewussten Weise sind wir als Gewohnheit zugleich diejenigen, die φ-en, und die Verkörperung der Norm des φ-ens. Als Gewohnheit hat die „Seele […] den Inhalt […] in Besitz und enthält ihn so an ihr, da sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist“ – denn wenn wir gewohnheitsmäßig handeln, dann orientieren wir unser Tun nicht an einer objektiv vorgestellten Norm, sondern handeln unmittelbar auf die Art normativ, die uns zur Gewohnheit wurde. Die Seele hat die Norm dann „empfindungs- und bewußtlos an ihr“ (Hegel 1830, § 410): sie ist ein Teil ihrer individuellen Gestalt geworden.

Mit der Gewohnheit erinnert Hegel aber nicht nur an eine uns ganz „unbefangen“ bekannte Art und Weise, in der die Norm einer Tätigkeit und der Vollzug dieses Tätigseins unproblematisch zusammenfallen, ohne in das leitmotivische Dilemma der Subjektphilosophie zu geraten. Er macht auch auf die Unmittelbarkeit des gerade-wirklich-Vollziehens als den Modus dieses Zusammenfallens aufmerksam. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um einen vermeintlichen Unterschied von (nicht-denkendem) „Handeln“ und (irgendwie distanziertem) „Nachdenken“ – sondern um den Modus, in dem man sich (unbefangen und im ersten Schritt) den Vollzug geistigen Tätigseins vorstellen muss. „Gewohnheit“ ist der Name für den Umstand, dass wir ständig in dieser Weise unmittelbar dabei sind, unsere menschlichen Angelegenheiten auszuführen: „Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes“, vom aufrechten Gang („der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will“), über die Tätigkeit des Sehens, bis hin zu den „vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseins, der Anschauung, des Verstandes“, die „unmittelbar […] in einem einfachen Akt vereint“ sind, wenn wir z.B. ein Rotkehlchen wahrnehmen, zum Kaffee greifen, oder in der Rede unseres Gegenübers der Pause entgegenfiebern, in der wir sprechen dürfen. „Das ganz freie, in dem reinen Elemente seiner selbst tätige Denken bedarf ebenfalls der Gewohnheit und Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist“. Warum? Weil das, worauf man sich bezieht, wenn man von sich als geistig Tätiger, oder als einem geistigen Wesen spricht, zunächst nicht die avancierte Vorstellung eines „sich selbst bestimmenden Subjekts“ ist, sondern die Vorstellung einer habituell geistig Tätigen. |61|„Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich“ (Hegel 1830, § 410 Anm.): Die einzige Gestalt, auf die wir Bezug nehmen können, wenn wir von uns als „Denkenden“ reden, ist die verkörperte Gewohnheit des Denkens. Der methodische Anfangspunkt der Praxisphilosophie beim Vollzug ist, nolens volens, der Anfang bei einem konkret, leiblich exemplifizierten Vollzug – beim unmittelbaren Tun eines Menschen. Leiblichkeit ist kein einfacher Zusatz zum geistigen Tun, sondern sein Medium: „Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt“ (Hegel 1830, § 411). Man muss „sich von der Trennung“ losmachen, die man „einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühl, dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, […] und zu der Vorstellung […] kommen, daß im Menschen nur eine Vernunft im Gefühl, Wollen und Denken ist“; dann verschwindet auch das Unbehagen vor der Einsicht, „daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann“ (Hegel 1830, § 471 Anm.). Praxisphilosophie fasst unsere menschlichen Angelegenheiten in ihrer tätigen Wirklichkeit. Die erste, unbefangene Erscheinung solchen Tätigseins ist die Gewohnheit: der Norm und Ausübung, „Innen“ und „Außen“ unmittelbar verbindende, gefühlte, wirkliche Vollzug.

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