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4.3. Tätige Selbstständigkeit: Die Öffentlichkeit des Handelns
ОглавлениеDer Bereich der menschlichen Tätigkeit mag auf Gewohnheiten aufruhen; er geht aber nicht im Gewohnten auf. Deshalb wird die Unmittelbarkeit des Vollzugs für die Praxisphilosophie genau dann problematisch, wenn man das Handeln in den Blick nimmt: Tätigsein, in dem das Verhältnis von Tun und Norm nicht bloß gefühlt wird. Man nimmt sich vor, zu φ-en; man weiß, wie man φ-t (man kennt die fragliche Handlungsform, den Handlungsbegriff) – und dann macht man sich daran, die fragliche Handlung auszuführen. Diese (selbst schon einigermaßen technische) Beschreibung bleibt dem subjektphilosophischen Modell treu – demjenigen Modell, dem beim Versuch, den Vollzug ins Zentrum zu stellen, der grammatische Fokus unbemerkt auf das handelnde Subjekt wanderte. Hegel begegnet dieser grammatischen Tendenz in einer dichten Passage der Phänomenologie des Geistes, die von der Unmittelbarkeit geistiger Vollzüge handelt.
Was also ist ein wirklicher Vollzug? Er ist, erstens, Vollzug von etwas, ein φ-en – etwas, das unter einen resultativen Handlungsbegriff fällt. Hegel nennt das „die Tat“: „Die Tat ist ein Einfach-Bestimmtes, Allgemeines, in einer Abstraktion zu Befassendes; sie ist Mord, Diebstahl oder Wohltat, tapfere Tat usf., und es kann von ihr gesagt werden, was sie ist.“ Als Tat ist er, zweitens, jemandes Vollzug; und im ersten, unbefangenen Schritt ist dieses Subjekt nichts als das Subjekt dieser |62|bestimmten Tat: Die Tat „ist dies [– ein φ-en, ein µ-en,– …], und der individuelle Mensch ist, was sie ist; in der Einfachheit dieses Seins ist er für andere seiendes, allgemeines Wesen“. Er ist, z.B., ein φ-ender, und geht im Vollzug in seinem Tätigsein auf: „nur die Tat [ist, für den Moment,] als sein echtes Sein zu behaupten, – nicht […], was er zu seinen Taten meint, oder was man meinte, daß er tun nur könnte. Ebenso indem andererseits sein Werk und seine innere Möglichkeit, Fähigkeit oder Absicht, entgegengesetzt werden, ist jenes allein für seine wahre Wirklichkeit anzusehen, wenn auch er selbst sich darüber täuscht und, aus seiner Handlung in sich gekehrt, in diesem Innern ein Anderes zu sein meint als in der Tat“ (Hegel 1807, 243). Wenn man praxisphilosophisch auf die wirklichen Vollzüge unserer Angelegenheiten schaut, sagt Hegel, dann darf man auch nur auf diese wirklichen Vollzüge schauen und muss der Versuchung widerstehen, den Vollzug des φ-ens unwillkürlich schon als das Werk seines Subjekts, und das heißt von dessen Absichten, Fähigkeiten, Eigenschaften her zu denken.
Aber was bleibt dann noch von der subjektiven Erfahrung des Vollzugs? „Betrachten wir […] den Inhalt dieser Erfahrung in seiner Vollständigkeit, so ist er das verschwindende Werk; […] das Verschwinden ist selbst wirklich und an das Werk geknüpft und verschwindet selbst mit diesem“. Das Vollziehen besteht so lange, wie man wirklich φ-t. Mit dem Getanhaben verschwindet das „Werk“, und übrig bleibt nur die gleichsam verklingende Erinnerung, „das Verschwinden“ (Hegel 1807, 302). – Man hat das häufig so gedeutet, als wolle Hegel sagen, das Tun sei irgendwie nur in dem vorhanden und greifbar, was es hervorbringt und was von ihm sozusagen übrigbleibt (ein „Produktions“- oder „Entäußerungs“-Modell, das irgend plausibel ohnehin nur bei ganz handfestem, dinglichem Herstellen wäre). Das Gegenteil ist richtig: Das „Werk“, vorgestellt als das dingliche Produkt des Handelns, verspricht vielleicht, der Beweis für das Getan-Haben zu sein; das Handeln aber terminiert im Werk. Man sieht, buchstäblich, den Dingen ihr Gemachtwordensein nicht an; sie sind in ihrer Bestimmtheit von diesem Handeln logisch unabhängig. Das „wahre Werk ist nur jene Einheit des Tuns und des Seins, des Wollens und Vollbringens“ (Hegel 1807, 302f.): der wirkliche Vollzug. Hier entdeckt Hegel die bereits bekannte perspektivische Spannung wieder: Der wirkliche Vollzug ist, dass eine Tat getan wird – dass einerseits ein Individuum subjektiv etwas will und tut; und dass andererseits objektiv etwas getan wird. Beide Perspektiven hängen zusammen, müssen aber nicht zusammenfallen. Subjektiv ist das „reine Tun […] wesentlich Tun dieses Individuums“; objektiv ist „dieses Tun […] ebenso wesentlich eine Wirklichkeit oder eine Sache. Umgekehrt ist die Wirklichkeit wesentlich nur als sein [konkretes] Tun sowie als Tun überhaupt“, als exemplarischer Handlungsbegriff. Die Idee gelingenden Handelns ist dann nichts anderes als die situative Koinzidenz dieser beiden Perspektiven: Dass das Individuum das will, was es tut, und dass das getan wird, was es tun will. Dem Handelnden ist es „um eine Sache zu tun und um die Sache als die seinige“: Wer handelt, will z.B. φ-en; und indem er φ-t, manifestiert er die allgemeine Form praktischer Wirklichkeit: dass es uns im Wollen und Handeln um Etwas geht, um „die Sache |63|überhaupt oder die an und für sich bleibende Wirklichkeit“– letztlich um die Praxis im Allgemeinen (Hegel 1807, 307). Wie aber weiß man, wenn man handelt, was es ist, das man tut? Wenn die Idee gelingenden Handelns im situativen Zusammenfallen der subjektiven und der objektiven, der inneren und der externen Perspektive besteht – wie kann man, jenseits dieser formellen Einsicht, wissen, ob dieses oder jenes konkrete Tun gut gelungen war?
Im Handeln treten das subjektive Wollen und Tun und die objektive, wie von außen schauende normative Beurteilung dieses Tuns auseinander. Anders als im unmittelbaren gewohnheitsmäßigen Tun bleibt es für uns im Handeln immer fraglich, ob das, was wir zu tun meinen, auch das ist, was objektiv getan wird. Man könnte an dieser Stelle auf den Konventionalismus einer Theorie der Praktiken zurückfallen und sagen: Die Entscheidung darüber, was objektiv getan wird, obliegt in der Tat nicht dem Handelnden, sondern den Anderen; das wird irgendwie „sozial ausgemacht“. – Hegel zeigt in einer besonders unterhaltsamen Passage, dass diese Ansicht in der Komödie einer fortgesetzten allseitigen Enttäuschung kollabiert. Denn die Anderen, die zu einem individuellen Handeln die „objektive Perspektive“ beisteuern sollen, unterstellen, dass es dem Handelnden um eine solche objektive Einschätzung geht, dass er „ein Interesse an der Sache als solcher und für den Zweck [hat], daß die Sache an sich ausgeführt sei, gleichgültig, ob von der ersten Individualität oder von ihnen“. Aber sie irren: Denn dem Handelnden geht es natürlich nicht einfach um irgendein abstraktes φ-en, sondern um sein φ-en: „es ist sein Tun und Treiben, was [ihn] bei der Sache interessiert“. Der Irrtum ist zudem zweischneidig: „in der Tat war [das] Herbeieilen [der Anderen], um zu helfen, selbst nichts anderes, als daß sie ihr Tun, nicht die Sache selbst, sehen und zeigen wollten; d.h. sie wollten die anderen auf eben die Weise betrügen, als sie sich betrogen worden zu sein beschweren“. Sie dachten vielleicht, dass sie eine „objektive“, von jeder Subjektivität unabhängige Perspektive beisteuern – was sie tatsächlich beisteuern können, ist nur eine andere, exemplarische subjektive Perspektive auf das, was getan wurde.
Diese Komödie der allseitigen Enttäuschung zeigt den Irrtum der konstitutionstheoretischen Auffassung, dass das Zusammenstimmen der beiden Perspektiven auf das wirkliche Tun etwas sei, das die Beteiligten irgendwie öffentlich gemeinsam und absichtlich herzustellen hätten. Die Öffentlichkeit steckt aber bereits in der Vorstellung des individuellen Wollens: Dem handelnden Individuum ist „nicht um die Sache als diese seine einzelne zu tun, sondern um sie als Sache, als Allgemeines, das für alle ist“. Dass „alle“ Anderen sich „für betrogen halten“ dürfen, weil ihre Perspektive stets nur als eine weitere subjektive, nie als eine objektive Perspektive akzeptiert werden kann, ändert nichts daran, dass die Form des Handelns auf solche Allgemeinheit ausgerichtet ist. Die „Verwirklichung ist […] eine Ausstellung des Seinigen in das allgemeine Element, wodurch es zur Sache aller wird und werden soll“ (Hegel 1807, 308f.). Ein gutes Handeln wäre genau insofern wirklich, als es in gleicher Weise die Sache aller ist: „ein Wesen, dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen, und dessen |64|Tun unmittelbar für andere oder eine Sache ist und nur Sache ist als Tun Aller und Jeder; das Wesen, welches das Wesen aller Wesen, das geistige Wesen ist“ (Hegel 1807, 310). Das ist keine Übereinstimmung, die Individuen sich sinnvoll herzustellen vornehmen könnten – denn es ist klar, dass bloß faktische Zustimmung auch beliebig vieler Individuen ein Handeln nicht gut macht, so wie bloß faktische Zustimmung auch beliebig vieler Anderer mein µ-en nicht zu einem φ-en macht. Es zeigt aber, wie man die normative Gutheit geistigen Tätigseins, die in der Gewohnheit unmittelbar (aber damit eben auch un-gewußt) gegeben war, und die im Handeln formal (und damit notwendigerweise prekär) ist, als wirklich begreifen kann: Nicht, indem man einen bestimmten Inhalt des Wollens als etwas erweist, das vernünftigerweise alle wollen sollten, sondern indem man den Vollzug des Handelns als je schon über-individuell versteht. So wird ein Verständnis des Vollzugs möglich, in dem das handelnde Individuum sich unmittelbar als vereinzeltes Exemplar einer Allgemeinheit weiß, als ein soziales Ensemble, oder als „das Subjekt, worin die Individualität [das handelnde Individuum] ebenso als sie selbst oder als diese wie als alle Individuen ist, und das Allgemeine, das nur als dies Tun Aller und Jeder ein Sein ist, eine Wirklichkeit darin, daß dieses Bewußtsein sie als seine einzelne Wirklichkeit und als Wirklichkeit Aller weiß“ (Hegel 1807, 310f.). Die Wirklichkeit des Vollzugs manifestiert sich darin, dass eine Handelnde sich als So-Handelnde weiß. Sie weiß sich aber als Handelnde notwendig in der Spannung zwischen ihrer und der Perspektive der Anderen auf ihr Tun; sich als Subjekt seines Handelns denken heißt dann, sich im Verhältnis zu diesen Anderen denken.