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1. Einleitung

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Das philosophische Projekt Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) ist einer der Ursprünge des modernen Nachdenkens über menschliches Tätigsein im Allgemeinen („Praxis“) und die Formen und Gestalten, die es stützen und prägen. Hegel greift einerseits das antike Nachdenken über „Praxis“ auf und gibt ihm ein neues Gepräge (vgl. Pinkard 2012, Ilting 1963); andererseits ist Hegel der vielleicht wichtigste Bezugspunkt für die „Philosophien der Praxis“ des 19. und 20. Jahrhunderts.

Dabei ist notorisch unklar, welche Motive und welche Argumentationen jeweils als weiterführend oder zurückzuweisen beurteilt werden; wie bei nur wenigen anderen Figuren der westlichen Geistesgeschichte sind Hegels Überlegungen in ihrer genauen Absicht, ihrem Status und ihrer Reichweite umstritten. Seine (freilich schwierigen, „dunklen“) Formulierungen erscheinen, je nach den systematischen Bedürfnissen seiner Interpreten, als „idealistisch“, „metaphysisch“ und „subjektphilosophisch“, oder umgekehrt als Vorbereitungen pragmatistischer und materialistischer Modelle von Praxis. Derartig interessierte Aneignungen sind unvermeidlich. Hegels Philosophie und die Geschichte ihrer Rezeption konfrontiert die Interpretin indes mit einer besonders verzwickten Variante solcher hermeneutischen Schwierigkeiten: Hier liegen die systematische Aneignung einerseits, die den historischen Argumentationsbestand im Hinblick auf gegenwärtige Problemlagen rekonstruiert, und andererseits die Doxographie, die Autoren – oft im Licht zeitgenössischer Diskussionen und mehr oder weniger plausibler „Einflüsse“ – Meinungen und Auffassungen zuschreibt, bisweilen fast ununterscheidbar nahe beieinander (vgl. Stekeler-Weithofer 2006).

Man kommt an die hegelsche Argumentation nur durch die konfliktbeladene Geschichte ihrer Auslegungen heran. Deshalb ist es nötig, den hier vorgestellten Interpretationsvorschlag schon vorab ungefähr in der umfänglichen und kontroversen Forschungslandschaft zu situieren. Im Versuch, Hegels Überlegungen nicht unmittelbar auf geläufige sekundärliterarische Zuschreibungen zu reduzieren, lässt sich die „Brille der Rezeptionsgeschichte“ aber auch nicht einfach ablegen oder ignorieren. Wie jede andere, so ist auch die Inanspruchnahme Hegels für eine Praxisphilosophie interessiert, und es wäre unanständig, sie als einen Beitrag zum (jenseits echter Philologie ohnehin fruchtlosen) Streit um „den wahren Hegel“ auszugeben. Die inhaltliche Annäherung begleitet so stets die Mitteilung darüber, welche Deutungsoptionen bestehen und ausgeschlagen werden.

Der „kleinste gemeinsame Nenner“ der ansonsten denkbar unterschiedlichen Deutungstraditionen dürfte die Bedeutung des gemeinsamen Tätigseins für Hegels Beantwortung der Frage nach der „Natur menschlicher Subjektivität und ihr[es] Verhältnis[ses] zur Welt“ sein (Taylor 1975, 3). Hegel übernimmt diese |40|Frage nach der Form, den Grenzen und der Wirklichkeit der Vernunft aus der sogenannten „klassischen deutschen Philosophie“. Sein originärer Beitrag besteht darin, die Vernunft, nach der gefragt wird, zu situieren (vgl. zu dieser Charakterisierung u.a. Henrich 1991, Pinkard 1994, Stekeler-Weithofer 2005, Förster 2010): Man verstehe Subjektivität und ihr Verhältnis zur Welt und zur Natur erst richtig, wenn man auch das Medium und Milieu versteht, in dem diese Verhältnisse auftauchen – das menschliche Zusammenleben mit seinen Institutionen, Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuchen. Ein angemessenes Verständnis der Vernunft bedürfe so nicht allein der Klärung ihrer geltungstheoretischen Möglichkeitsbedingungen, sondern müsse irgendwie die handfesten sozialen Bedingungen ihrer Verwirklichung mitbedenken. Wenn es aber – mit einer erläuterungsbedürftigen Merkformulierung – Vernunft nur in einer oder als eine soziale Praxis „gibt“ (vgl. etwa Bertram 2017), dann gehört zum Nachdenken über das Denken erstens auch dazu, seine Natürlichkeit, seine Geschichtlichkeit und seine politische Dimension als nicht nebensächlich zu begreifen. Zweitens ist jede Ausübung der Vernunft etwas, das besser oder schlechter getan wird: es ist, wie alle menschlichen Vollzüge, Gegenstand normativer Urteile. Dass das Ausüben vernünftiger Fähigkeiten einer normativen Grammatik folgt (s. Müller 2003), ist zumindest ein Hinweis darauf, dass sich „theoretische“ und „praktische“ Philosophie nicht wie zwei aufgrund ihrer verschiedenen Gegenstandsbereiche grundsätzlich getrennte Unternehmen begreifen lassen: Wenn auch die Probleme der theoretischen Philosophie begrifflich auf eine gute Ausübung vernünftiger Fähigkeiten bezogen sind, dann wird man das Nachdenken über Wahrheits-, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie jedenfalls methodisch bei der „praktischen“, d.h. tätigen Vernunftausübung beginnen lassen müssen. Daraus müsste drittens folgen, dass das gesamte Projekt der modernen Vernunftphilosophie grundsätzlich nicht von einem – und sei es methodisch konstruierten – Beobachterstandpunkt, sondern nur vom Standpunkt verwickelter Teilnahme her verstanden werden kann.

Die Absicht dieses Beitrags ist es, Hegels derart radikale Praxisphilosophie (über ihre historische Bedeutung hinaus) wenigstens plausibel zu machen. Hegel formuliert Praxisphilosophie als eine Philosophie des Geistes. Im ersten Schritt werden Gründe dafür gegeben, weshalb das vernünftig ist (2.); der zweite Abschnitt umreisst den methodisch „unbefangenen“ Anfang einer solchen Praxisphilosophie bei der „Wirklichkeit“ menschlicher Vollzüge, und stellt die Darstellungsprobleme vor, die sich aus diesem Vorgehen ergeben (3.). Die beiden letzten Abschnitte schließlich rekonstruieren – von der Gewohnheit über das Handeln hin zur Anerkennung und ihrem gemeinsamen Medium, der „Sittlichkeit“ – die Bestimmungen der Praxis bei Hegel (4.–5.).

Philosophien der Praxis

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