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|32|4.5. Die Funktion des Naturgesetzes in der selbstbestimmten Lebensführung

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In Anbetracht der so aufgewiesenen moralischen Perspektive des thomasischen Naturgesetzes könnte nun bedeuten, dass der Einzelne nicht die Möglichkeit hat, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, da er von vornherein an universale, übergeschichtliche Normen gebunden ist, die in der ihn umgebenden Gesellschaft ihren Ausdruck finden. Wie kann es auf dieser Grundlage möglich sein, das eigene Leben selbst zu bestimmen? Hierzu möchte ich auf vier Punkte kurz eingehen.

1. ist das Naturrecht selbst in sich sehr differenziert. Die mit dem Grundgebot gegebene Beurteilung von Handlungsoptionen als gut und schlecht gibt noch keine Liste von Einzelgütern vor, sondern diese entstehen erst durch das Vorhandensein der natürlichen Neigungen, die aber ihrerseits wieder, wie gezeigt wurde, nicht von jedem Menschen realisiert werden können oder auch nur sollten. Damit geben die Inhalte des Naturgesetzes einen Rahmen vor, der individuell ausgefüllt werden muss. Moralische Verbote legen die Grenzen fest, die für ein gedeihliches Zusammenleben zu beachten sind, während die Gerechtigkeit mit ihrem Grundgebot „jedem das Seine“ zu einer positiven Gestaltung der Gesellschaft ermahnt. Die Geltung dieser Regeln ist für Thomas zwar unveränderlich – keine Gesellschaft kann ohne derartige Regeln überleben –, aber sie ist nicht in dem Sinne universal, dass sie keine Ausnahmen zulassen würde. Vielmehr haben gewisse Regeln aufgrund von faktischer Unkenntnis oder von praktischen Hindernissen in manchen Gesellschaften keine Gültigkeit oder finden in Einzelfällen keine Anwendung (I-II 94, 4–6). Wo das Naturrecht auf das reale Leben der Menschen trifft, dort kann es keine Eins-zu-Eins-Umsetzung seiner Vorschriften geben. Vielmehr stellen die moralischen Normen des Naturrechts, ebenso wie seine Lebensregeln, nur eine Grundlage dar, die in konkreten Gesellschaften ebenso immer neu gelegt werden muss wie im Leben des Einzelnen.

2. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Thomas nirgendwo eine vollständige Liste von „Grundgütern“ oder „-werten“ nennt (s. Perkams 2005, 39). Die Problematik einer solchen Aufstellung ergibt sich für ihn wohl nicht nur aus der Schwierigkeit, das Naturrecht in die Wirklichkeit zu überführen, sondern auch daraus, dass wirkliche Rechts- und Moralordnungen notwendigerweise weit über die Eckpunkte hinausgehen, die durch das Naturrecht festgelegt sind. Jede faktisch existierende menschliche Gemeinschaft basiert nämlich auf rechtlichen Vorschriften, durch deren historisch fortschreitende Erfindung (adinventio) oder Festsetzung (determinatio) Menschen einen bestimmten Rahmen geschaffen haben, der bestimmte Formen einer naturrechtlichen Lebensführung erst ermöglicht. Das Naturrecht bestimmt die menschliche Moralität also zu großen Teilen indirekt (wo nicht ein Einzelner auf die allgemeinen Grundlagen von Recht und Unrecht reflektiert, wie er sie im eigenen Gewissen erkennt) und lässt weiten Raum für verschiedene Formen der Konkretisierung, die für real existierende Lebensordnungen auch erforderlich sind (s. Perkams 2005, 43–45 |33|u. Bormann 1999, 292). In diesen Konkretisierungsformen ist es häufig sogar der Fall, dass nicht alle Regeln des Naturrechts anerkannt werden, sondern dass einige von ihnen ihre Gültigkeit verlieren, etwa wenn Völker vom Raub leben oder Polygamie betreiben (Suppl. zu STh III, 65, 2 c. u. ad 1; I-II, 94, 4 c; vgl. Bormann 1999, 248–252). In Anbetracht dieser faktischen Vermischung von Naturrecht und positivem Recht muss es Thomas höchst unwahrscheinlich erschienen sein, dass eine stets aus einer bestimmten historischen Perspektive heraus erfolgende philosophische Reflexion eine vollständige Liste von Grundgütern angeben kann. Da in seinen Augen die theologische Offenbarung diese Lücke schließen konnte, dürfte ihm das nicht problematisch erschienen sein.

In der heutigen Situation ist eine Skepsis gegen Vollständigkeit anstrebende Rekonstruktionen von Grundgütern ebenfalls geboten, da sie stets in der Gefahr stehen, ein historisch gewachsenes Regelsystem metaphysisch zu verabsolutieren (s. May 2004, 142–146). Trotzdem gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass gewisse Ge- und Verbote in jeder Kultur, auf eine hinreichend konkretisierte Weise, gelten sollten. Hierdurch erhält man auch ein nützliches Konzept zur Begrenzung von nicht mehr akzeptablen ethischen Ansprüchen. Dafür ist es jedoch nicht entscheidend, eine genaue Liste natürlicher Güter anzugeben, sondern es genügt, die Notwendigkeit der Annahme solcher Güter anhand bestimmter Beispiele deutlich zu machen, um im Falle der anzunehmenden Verletzung solcher Rechte darauf verweisen zu können, dass bestimmte Praktiken einer für alle Menschen geltenden Sittlichkeit widersprechen.

3. erkennt Thomas’ Position an, dass die von Menschen anerkannten ethischen Regeln sich aus naturgesetzlichen und kulturell variablen Vorschriften zusammensetzen, die jeder Mensch aufgrund seiner Erziehung und sozialen Beeinflussung aufnimmt. Vor diesem Hintergrund liefert die naturrechtliche Perspektive überhaupt erst eine Begründung dafür, dass die Bildung von Normen individuell verläuft, da der Einzelne, der über sein Urgewissen (synderesis) einen Zugang zu den naturgesetzlichen Regeln hat. hierin über ein nicht ausschließlich gesellschaftlich bestimmtes Bezugssystem für moralische Regeln verfügt, so dass ihn als falsch erkannte Regeln nicht gewissensmäßig binden (I-II, 96, 4). Das Naturrecht ist also kein Hindernis, sondern eher eine Bedingung dafür, dass das Individuum in seiner eigenen Lebensführung gesellschaftliche Werte nicht einfach rezipieren muss, sondern sie kritisch aufnehmen, entwickeln und sich zu ihnen verhalten kann (vgl. Perkams 2005, 45f.). Dass sich Menschen für eigene Lebensentwürfe entscheiden und sich dabei von ihren eigenen Werten und persönlichen Interessen leiten lassen, ergibt sich für Thomas aus der Vielfalt der innerweltlichen Güter, die es nie zulassen, dass ein Einzelner alle für den Menschen sinnvollen Lebensziele voll realisiert. Von einem einheitlichen Ziel des Lebens aller Menschen lässt sich dagegen nur aus theologischer Perspektive sprechen, nämlich der Schau Gottes, die tatsächlich ein einheitliches Ziel des menschlichen Lebens darstellt (I-II 1, 5. 3, 8). Im gegenwärtigen Leben kann eine solche Einheitlichkeit immer nur von einer bestimmten Perspektive her gegeben sein, |34|wobei freilich verschiedene den Menschen erreichbare Güter für den Menschen sinnvoller sein können als andere (Kluxen 1964, 150f; Schröer 1995, 77–90).

4. In der Fortsetzung solcher Überlegungen versteht Thomas die Tätigkeit der Klugheit als das Auffinden der jeweils richtigen Konkretisierung der Regeln in einzelnen Fällen (vgl. Perkams 2018). Um diesen Prozess, also die Wirkung praktischer Vernunft im aristotelisch-thomasischen Sinne, zu charakterisieren, skizziert Thomas die Tätigkeit eines Architekten: Unter Beachtung dessen, was ein Haus im Allgemeinen ist und leisten muss, erstellt er einen Entwurf, der für die konkrete Situation, unter Berücksichtigung der Ziele, der Umstände (z.B. der Bodenbeschaffenheit) und der zur Verfügung stehenden Materialien des Baus, eine funktionale Leitlinie für das Bauen darstellt (I-II 95, 2 resp.). Auf dieselbe Weise müssen die universalen Gebote des Naturgesetzes durch eine kreative Tätigkeit der Gesetzgeber in konkreten Staaten realisiert werden, in denen die Gesetze gelten sollen (I-II 95, 3f.).

Freilich meint Thomas nicht, dass der Standard der Universalität bei solchen partikulären Entscheidungen grundsätzlich verlassen werden soll: Anhand des Beispiels von jemandem, der sich fragt ob er einem Vaterlandsverräter eine geliehene Waffe zurückgeben soll, formuliert er das Prinzip „Geliehenes ist unter dieser und dieser Zusatzbedingung zurückzugeben“, um gleich darauf hinzuweisen, dass die Zusatzbedingung bedeuten wird, dass das Prinzip, das den Einzelfall trifft, in umso mehr Fällen nicht gelten wird, je konkreter es ist (I-II 94, 4 resp.). In ähnlichem Sinne betont er, dass sich in komplexen Fällen das obiectum der Handlung, d.h. deren passendste Beschreibung, aufgrund zusätzlicher Umstände ändern kann, wenn z.B. ein Diebstahl dadurch ein noch schlimmeres Sakrileg wird, dass er aus einer Kirche erfolgt (I-II 18, 10 resp.). Diese Beispiele weisen darauf hin, dass die kreative Aktivität, die sowohl ein guter Gesetzgeber in einem Staat als auch jeder Einzelne in seiner jeweiligen Situation vollziehen muss, darin besteht, die richtige, möglichst allgemeine, aber zugleich hinreichend konkrete Beschreibung einer Situation zu finden, die deren Bewertung aufgrund der allgemeinen Regeln des Naturgesetzes ermöglicht.

Auf diese Weise kann, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, jedes „objektive“ Urteil darüber, was richtig oder falsch ist, in Einzelfällen durch die subjektive praktische Vernunft eines kompetenten, d.h. tugendhaften und informierten, Individuums geändert werden, da diese Vernunft die unmittelbar verpflichtende Handlungsregel ist (I-II 19, 4; 21, 1). So können verschiedene Menschen aufgrund derselben Prinzipien zu einander entgegenstehenden praktischen Einzelentscheidungen kommen, so wie es unterschiedliche gerechte menschliche Gesetze auf der Grundlage des Naturgesetzes geben kann: Thomas verdeutlicht das am Fall eines Richters, der jemanden verurteilt, und der Frau des Verurteilten, die dessen Befreiung fordert: Beide verfolgen ein unterschiedliches, aber jeweils gerechtfertigtes Gut, das aus ihrer partikulären Perspektive für die Beurteilung der Situation entscheidend wird – so dass sie Gegenläufiges wollen (I-II 19, 10). Folglich fällt keine transzendentale, sondern eine situative praktische Vernunft |35|das jeweils perspektivische partikuläre Urteil über eine bestimmte Situation. Hieraus geben sich wichtige Folgen für Thomas’ Gewissenstheorie, die hier nicht zu diskutieren sind (vgl. Perkams 2005).

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