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3.1. Die Entfaltung des Begriffs Praxis im Unterschied zum Hervorbringen (Poiēsis)

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Bei Praxis und Poiēsis handelt es sich für Aristoteles um zwei verschiedene Weisen menschlicher Aktivität. Den Unterschied beider macht er insbesondere an zwei Punkten fest:

[1] Jede Fertigkeit (technē) bezieht sich auf die Entstehung sowie das Fertigmachen und Betrachten (technazein kai theōrein), wie etwas von dem entsteht, was es geben und nicht geben kann und das seinen Ursprung im Hervorbringenden, aber nicht im Hervorgebrachten hat. […] Weil aber das Hervorbringen (poiēsis) und die Praxis etwas Verschiedenes sind, muss sich eine Fertigkeit auf das Hervorbringen, aber nicht auf eine Praxis beziehen. […] Denn das Ziel des Hervorbringens ist gewiss etwas Verschiedenes, das der Praxis aber nicht. Denn die gute Praxis ist selbst das Ziel.

[2] Deswegen glauben wir, dass Perikles und ähnliche Leute klug sind, weil sie das für sich und für die Menschen Gute betrachten (theōrein) können. […] Deswegen muss die Klugheit eine auf Praxis abzielende, mit Vernunft verbundene, in Bezug auf das Menschliche wahre Charakterhaltung sein.

[3] Aber gewiss gibt es für eine Fertigkeit eine Tugend (aretē), für die Klugheit aber nicht. Und in einer Fertigkeit ist der vorzuziehen, der freiwillig einen Fehler macht, im Hinblick auf die Klugheit aber weniger, so wie auch im Hinblick auf die Tugend. (Nikomachische Ethik [NE] VI 4, 1140a10–14, 16f.; 5, 1140b6–10, 20–24)

Der Kerngedanke dieser Stelle besteht in der Herausarbeitung von Praxis als einer spezifischen Weise des menschlichen Agierens: Neben der üblichen Weise der Aktivität, in der es uns darum geht, etwas zu produzieren oder zustande zu bringen, muss man eine Art von Aktivität annehmen, deren Ziel im guten Handeln selbst liegt.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sind mehrere Bemerkungen zu machen: Mit „Hervorbringen“ ist hier nicht nur eine Herstellung im engeren Sinne gemeint, die dazu führt, dass ein materieller Gegenstand entsteht, sondern dieser Begriff ist auf jede Tätigkeit zu beziehen, die in erster Linie darauf abzielt, etwas zu erreichen, was vom Handelnden verschieden ist. Hierzu gehört also das Schreinern eines Tisches ebenso wie das Produzieren eines Buches. Aber auch das Erreichen eines sportlichen Ziels, wie etwas das Schießen eines Tors oder das Besteigen eines bestimmten Bergs, oder das Vermitteln einer bestimmten Lehre kann grundsätzlich zu diesem Bereich gerechnet werden, und wohl überhaupt jede Tätigkeit, deren Ziel im Verdienen des eigenen Lebensunterhalts liegt. Wie |13|diese Beispiele zeigen, können die Unterschiede zu Tätigkeiten, deren Zweck in ihnen selbst liegt, fließend sein, wenn man etwa das Betreiben von Sport, z.B. Fußball, oder das Musizieren als in sich selbst sinnvolle Tätigkeiten ansieht. Übrigens weisen diese Beispiele für inhärent wertvolles Handeln auf den wichtigen Punkt hin, dass eine Tätigkeit durchaus praktisch und poiētisch zugleich sein kann, wenn ein Musiker mit Freude ein Stück spielt und doch für den Auftritt bezahlt wird (vgl. Broadie 1991, 205–208).

Ähnliches gilt auch, wenn man den Sinn der aristotelischen Praxis etwas genauer eingrenzt: Die von mir als [2] und [3] gezählten Paragraphen weisen nämlich darauf hin, dass es Aristoteles nicht um jede möglicherweise selbstzweckliche Tätigkeit geht, sondern dass er eine noch spezifischere Form hiervon als Praxis bezeichnet: Seine Beispiele sind nicht zufällig der Athener Staatsmann Perikles und vergleichbare Weise, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das für den Menschen Gute „betrachten“ können. Ebenso also, wie laut Abschnitt [1] zum Hervorbringen ein „Betrachten“ (theōrein) der Frage gehört, „wie etwas entsteht“, wird nun eine spezifische Kompetenz für die Praxis genannt, die Aristoteles als bekannt voraussetzt: Die Leistung dieses Vermögens, der „Klugheit“ (phronēsis), das sich im Wirken guter Politiker manifestiert, kann daher verdeutlichen, was als Praxis im aristotelischen Sinne zu gelten hat: Eine Aktivität, die konstant das gute menschliche Leben realisiert, indem sie für die menschliche Gemeinschaft direkt wirkt, und zwar, unter Leitung einer ihr angemessenen Rationalität, sowohl im Hinblick auf das Individuum selbst als auch im Hinblick auf politische Gemeinschaften.

Auf diese Weise erschließt sich dann auch, was näherhin mit der Aussage, dass „die gute Praxis selbst das Ziel ist“, gemeint ist. Sie verweist auf den Hintergrund von Aristoteles’ ethischem Ansatz im Ganzen: Für ihn besteht das Ziel des menschlichen Leben in einem Glücklich-Sein (eudaimonia), in dem die dem Menschen als Menschen gegebenen Möglichkeiten möglichst vollständig und dauerhaft realisiert werden (NE I 5f., 1097a15–1098b8; gezeigt im ‚Ergon-Argument‘: NE I 6, 1097b22–1098a20; Eudemische Ethik [EE] II 1, 1218b 31–1219a 39; vlg. Müller 2003, 514–542). Nur eine Aktivität, die diesem Anspruch gerecht wird, verfolgt wirklich keine Ziele, die außerhalb des Menschen liegen, sondern ihre Ziele liegen innerhalb ihrer selbst. „Denn wir wählen sozusagen alles um etwas anderen willen außer der Eudaimonia“ (NE X 6, 1176b30f.). Für Aristoteles kommen, wie er bekanntlich in Buch X der Nikomachischen Ethik erläutert (NE X 7f., 1177a12–1178b32), nur entweder eine theoretische Aktivität wie die des Philosophen oder eine praktisch-politische Aktivität als Realisierung der Eudaimonie infrage. Letztere ist, da die erste eher das Göttliche im Menschen betrifft (1177b30f.), im eigentlichen Sinne die Praxis im aristotelischen Sinne.

Den Unterschied einer solchen Praxis von einem „Hervorbringen“ verdeutlicht Aristoteles in Abschnitt [3] schließlich durch einen weiteren Gedanken: Die Tätigkeit eines exzellenten Hervorbringens kann auch darin bestehen, absichtlich etwas Fehlerhaftes zu produzieren: Zum Beispiel kann ein guter Büchsenmacher Gewehre produzieren, die ihr Ziel regelmäßig verfehlen, und ebenso kann ein |14|guter Fußballtrainer seine Mannschaft absichtlich so aufstellen, dass sie verliert. Für die Klugheit als der Praxis inhärente Rationalität ist das nicht möglich, sondern hier wäre ein absichtliches Verfehlen des menschlichen Gutes ein Zeichen dafür, dass eigentlich keine Klugheit vorliegt. Die Klugheit ist demnach eine „Tugend“, d.h. eine dauernde erworbene Charaktereigenschaft, die nur auf das Gute hinwirken kann, und zwar natürlich auch dann, wenn sie für ein konkretes Ziel, etwa ein neues gerechtes Gesetz, auf gleichsam „poiētische“ Weise arbeitet.

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