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|26|4.3. Rationale Selbstbestimmung: Die Fundierung der praktischen Vernunft im „Naturgesetz“ (lex naturalis)
ОглавлениеFür Thomas beruht das menschliche Handeln insgesamt auf einer Vernunft, dank derer jeder Mensch die Herrschaft über die eigenen Handlungen besitzt (I-II 1, 1–2; s. als Beleg u.a. I-II, 17, 1. 18, 2). Zugleich stellt die Vernunft auch die Norm für seine Handlungen dar, nach der er sich richten kann und muss, da sich ihm die richtige Handlungsweise stets nur durch ein rationales Urteil erschließt (I-II 18, 2–4). Die Tatsache, dass dieses Urteil stets partikulär ist, hat hierbei zweierlei Implikationen: Einerseits ist jeder Mensch befähigt, auf individuelle Weise grundsätzliche Entscheidungen über die Ziele zu treffen, die er in seinem eigenen Leben verfolgen will (Summa contra gentiles III, 113); andererseits sind hierbei stets konkrete Situationen auf jeweils spezifische Weise zu beurteilen, weswegen Thomas eine differenziertere Theorie der Beschreibung partikulärer Handlungen entwickelt. (vgl. Perkams 2008, 2018; zu den Temini Naturrecht und Gerechtigkeit Fuchs 2017)
Den Hintergrund dieses Gedankens liefert Thomas’ Theorie des Naturgesetzes bzw. des Naturrechts: Für Thomas ist das natürliche Recht bzw. Gesetz (ius naturale bzw. lex naturalis; zur Synonymität beider Begriffe Bormann 1999, 272–275) nichts anderes als die im Intellekt gegebenen universalen Grundaxiome der Vernunft, insofern sie praktisch ist, d.h. die menschliche Lebensführung anleitet. (vgl. zur Unterscheidung moderne Ansätze eines „ethischen Naturalismus“ Birnbacher 2003, 110–125, Quante 2003, 110–125; auf Thomas von Aquin aufbauend hingegen Finnis 1980) Er begründet das durch eine Analogie zu Aristoteles’ Aussagen über die allgemeinsten Prinzipien des Denkens: Ebenso wie es unbeweisbare Axiome des theoretischen Denkens gibt – etwa den Satz vom Widerspruch –, so verfügt auch das praktische Denken über unbezweifelbare Ausgangspunkte, die jedem Nachdenken über Handlungen zugrundeliegen. Die grundlegende Formel des Naturgesetzes lautet für Thomas, dass das Gute zu tun, das Böse aber zu lassen ist (bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum). Dieser Satz wird von jedem Menschen ebenso anerkannt wie die Grundsätze des theoretischen Denkens, doch unterscheidet er sich vom theoretischen Axiom dadurch, dass es in imperativischer Form gegeben und daher „die erste Vorschrift des Gesetzes“ (primum praeceptum legis) ist (I-II 94, 2). Als eine solche Vorschrift prägt der Satz das gesamte menschliche Handeln. Die Anerkenntnis der Tatsache, dass dieses Handeln gut oder schlecht sein kann, wird nicht von außen von ihm herangetragen, auch nicht durch eine Reflexion auf die eigene Natur, sondern „gut“ ist der funktionelle Grundbegriff, durch den Handlungen überhaupt erst beurteilbar werden. (s. erläuternd Grisez 1965, 168–201)
Die praktische Vernunft ist demnach jedem Menschen als ein inneres Gesetz gegeben, das mit den Begriffen „gut“ und „schlecht“ verbunden ist. So bestimmt sich der Mensch deswegen zu bestimmten Handlungen, weil er sie als gut oder schlecht ansieht. Hierbei wird der Begriff „gut“, ähnlich wie bei Aristoteles, |27|strebenstheoretisch gedeutet: „Gut ist das, was alle anstreben“, formuliert Thomas mit Aristoteles (I-II 94, 2 resp.). Insofern bedeutet der Imperativ „das Gute ist zu tun“ zunächst nicht mehr als, das, was für mein Leben zuträglich ist, ist zu tun‘, und erlangt auf diese Weise seine lebenspraktische Dimension. (Vgl. hierzu Grisez 1965, 186; Merks 1990, 40–42)
Das, was für ein menschliches Leben zuträglich ist, ist allerdings nicht beliebig, sondern es wird auf allgemeine Weise vom Naturgesetz der Vernunft bestimmt. Das bedeutet aber nicht, dass die menschliche Lebensführung auf ein Ziel reduzierbar wäre. Ganz im Gegenteil betont Thomas: „In vielfachem Sinn spricht man von Natur“ (Natura multipliciter dicitur: I-II 10, 1 c.a.). Er erläutert diesen Gedanken anhand einer Rangfolge von natürlichen Neigungen (inclinationes naturales), die seiner Meinung nach sämtlich solche natürlichen Strebensziele darstellen, die grundsätzlich für jeden Menschen Bedeutung haben und daher in der individuellen und allgemeinen menschlichen Vernunft regelmäßig reflektiert werden: Zum einen das natürliche Streben jeder Substanz nach Selbsterhaltung, zum zweiten das allen Lebewesen gemeinsame Streben nach Fortpflanzung und der Erziehung von Kindern; zum dritten solche Strebensziele, die sich insbesondere aus der Natur des Menschen als eines rationalen Lebewesens ergeben, wie der Erwerb von Erkenntnis sowie ein Leben in Gemeinschaft (I-II 94, 2). (s. zu einer Übersicht der Ziele Lippert 2000, 124f.)
Kennzeichnend für die Selbstbestimmung des individuellen Menschen ist hierbei, wie diese Güter von ihm erstrebt werden. Denn kraft seiner Rationalität zeichnet sich der Mensch dadurch aus, dass er sich der Vielfalt dieser Ziele bewusst ist und zwischen ihnen abwägen kann. Nur mithilfe seiner Vernunft kann sich jemand für ein bestimmtes Ziel entscheiden, und zwar auch dann, wenn dieses Ziel für den Willen prinzipiell erstrebenswert ist (I-II 17, 1), wie es von den Zielen des Naturgesetzes gilt (vgl. Grisez 1965, 191f.). Jeder einzelne Mensch kann daher verschiedene Ziele in Beziehung zueinander setzen, sie auf eine persönliche Weise bewerten und für sich bestimmte Ziele auswählen. Dabei kann er auch auf die Erfüllung bestimmter Ziele ganz verzichten (s. die theoretische Rechtfertigung in I-II, 10, 1, ad 1–3). Der letztere Punkt wird von Thomas an dem Beispiel verdeutlicht, dass Menschen häufig freiwillig darauf verzichten, sich selbst fortzupflanzen, um sich Zielen zu widmen, die ihrer Meinung nach höherrangig sind – zum Besispiel dann, wenn jemand, wie Thomas selbst, ins Kloster geht. Thomas differenziert konsequenterweise zwischen naturgesetzlichen Anweisungen, die jeder einzelne Mensch realisieren muss – etwa das eigene Überleben – und solchen, die die Menschheit als ganze, nicht aber jeder Einzelne realisieren muss – etwa körperliche Arbeit (II-II 187, 3 ad 1) oder auch die Fortpflanzung. Die Möglichkeit, dass jemand sich gegen ein solches Lebensziel entscheidet, bedeutet aber nicht, dass dieses Ziel für ihn nicht natürlich wäre – auch für den Mönch ist die Fortpflanzung ein natürliches Ziel, und der Verzicht auf sie ist durchaus eine Einschränkung, selbst wenn er selbst gewählt ist. Zu beachten ist auch, dass das Naturgesetz als Habitus der praktischen Vernunft in weit |28|geringerem Maße von Natur aus vorgegeben ist als die theoretischen Prinzipien, die sich automatisch aus der Erkenntnis ihrer Termini ergeben. Von einem Habitus des Strebevermögens, wie es der menschliche Wille ist, gibt es nur „bestimmte Prinzipien, so wie man sagt, dass die Prinzipien des allgemeinen Rechts samenhafte Anlagen zu Tugenden darstellen“ (I-II, 51, 1). Demnach muss ein praktischer Habitus als ganzer erst erworben werden, so dass die Ziele einer jeden Person sich gemeinsam mit den menschlichen Strebenszielen im Allgemeinen und innerhalb von deren Rahmen nach und nach herauskristallisieren (vgl. Schröer 1995, 46–54), wenn sich der Mensch auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu einer Person mit einem festen Willen entwickelt (vgl. Frankfurt 2004). Auch von diesem Gesichtspunkt her muss man Thomas’ Naturgesetzlehre als eine Rahmentheorie für individuelle Lebensentwürfe verstehen, in denen das Naturgesetz auf historisch und sozial vermittelte Weise wirksam wird.
Vor dem Hintergrund dieser Mannigfaltigkeit begründbarer Lebensentwürfe muss man Thomas zufolge bei der Angabe der Ziele des Willens die Vielfalt der menschlichen Vermögen und Bedürfnisse im Blick behalten. „Deswegen will der Mensch auf natürliche Weise nicht nur das Objekt des Willens, sondern auch anderes, das anderen Vermögen entspricht“ (I-II, 10, 1 c.a. Vgl. I-II, 94, 2 ad 2). Aus diesem Grund sind für Thomas alle genannten Güter – Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Gemeinschaft – natürliche Ziele des Willens. Das ergibt sich auch aus der engen Bindung, die den Willen in Thomas’ Konzeption an die praktische Vernunft koppelt: Insofern der Wille ein rationales Strebevermögen ist, ist er darauf angewiesen, dass ihm alle seine möglichen Ziele von der Vernunft vorgegeben werden. Das betrifft in besonderem Maße die natürlichen Ziele des Willens bzw., anders gesagt, „die Vorschriften des Naturgesetzes, von denen die praktische Vernunft auf natürliche Weise erkennt, dass sie praktische Güter sind“ (Sth I-II, 94, 2). Für den Willen spricht man also deswegen sinnvollerweise von einer Vielzahl von Gütern, weil jede menschliche Vernunft sich mit einer Vielzahl derartiger Güter konfrontiert sieht, die sie zu gewichten hat.
Diese Annahme ist für Thomas von weitreichender Bedeutung und bestimmt seine Handlungstheorie wesentlich mit: Nur im Ausnahmefall kann die Vernunft den Willen vollständig bestimmen, denn stets gibt es weitere partikuläre Gesichtspunkte, die das individuelle Urteil nicht berücksichtigt hat; was ein Mensch tut, entscheidet sich daher letztlich dadurch, wie sein durch seine Interessen geprägter Wille seine Überlegungen beeinflusst, und wie er andererseits wieder auf die Anweisungen der Klugheit reagiert (ausführlich in Perkams 2013). Trotz der engen Verflechtung von willentlichem und emotionalem Streben mit den deliberativen Überlegungen praktischer Rationalität, hebt Thomas die Eigengesetzlichkeit beider nicht auf und nimmt eine prinzipielle Revidierbarkeit auch verfestigter habitueller Gewohnheiten an. (Vgl. zu diesem umstrittenen Punkt Kent 2013, 91–109; s. zur Kritik von Zeitgenossen: Heinrich von Gent Quaestiones quodlibetales, 90–115.) Rationale Selbstbestimmung ist demnach sowohl eine Möglichkeit als auch eine Notwendigkeit für jeden einzelnen Menschen, und das |29|rationale ‚Naturgesetz‘ ist die Grundlage, vor der diese Vielfalt selbstbestimmter Lebensentwürfe als sinnvoll verständlich wird, von der her aber auch misslungene Entwürfe kritisierbar bleiben.