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4.1. Universale ethische Sätze und Gewissen: Voraussetzungen der Rezeption der aristotelischen Ethik in Antike und Mittelalter
ОглавлениеAls Vorbedingung für die Entwicklung eines solchen Ansatzes kann die Tatsache gelten, dass Thomas Aristoteles vor dem Hintergrund einer Terminologie und Systematik rezipieren kann, die weitere, für uns weitgehend selbstverständliche Voraussetzungen einbezieht. Zunächst ist die Philosophie in lateinischer Sprache, die über das Mittelalter die Terminologie und Konzeptualisierung von Ethik in der Neuzeit massiv beeinflusst hat, von ihren Anfängen bei Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) her wesentlich von stoischen Einflüssen geprägt: Für Cicero ist die Vergesellschaftung von Menschen ein Produkt der menschlichen Rationalität, die, als Ausdruck der kosmischen Vernunft der stoisch verstandenen Gottheit, für den Menschen zu einem Gesetz wird, das sowohl dessen individuelles Leben als auch dessen staatliche Vergemeinschaftung bestimmt. (vgl. Cicero De legibus I 22–63, v.a. 33) Christliche lateinische Autoren wie Augustinus (354–430) und Petrus Abaelardus (1079–1142) greifen diese Konzeption auf, und vor allem der letztere sieht das menschliche Verhalten als bestimmt an von der „Vernunft, die mich wie ein Gesetz regieren muss“; (Abaelard, Römerbriefkommentar II, 208 Buytaert; vgl. Perkams 2001, 106f. u. 310) die spezifische Leistung dieser Autoren, die auch die antike Tugendkonzeption in ihr Denken übernehmen (Bejczy 2007, 1; Wieland 1981, 221–238), besteht insbesondere in einer vertieften Reflexion des Verhältnisses von Schuld und Gewissen, das von Abaelard in der prägnanten Sentenz zusammengefasst wird „es gibt keine Sünde außer gegen das |24|Gewissen“ (non est peccatum nisi contra conscientiam; als Zweitüberschrift abgedruckt in der englischen Übersetzung: Abelaerd [Luscombe] 1971, 26, 54). Damit wird die individuelle praktische Vernunft, die sich im Gewissensurteil ausdrückt, als die Instanz anerkannt, die das individuelle Handeln bestimmen muss und vor welcher der Schuldige primär verantwortlich ist. Die Bestimmung des Verhältnisses individueller und universaler Rationalität wird damit zu einer zentralen Frage des mittelalterlichen christlichen Denkens, die ihre Bedeutung behält, wenn die mittelalterlichen Denker im 13. Jahrhundert, neben anderen Werken des Aristoteles, die Nikomachische Ethik kennenlernen.
Diese Voraussetzungen machen es auch verständlich, dass dieses aristotelische Werk nach seinem Bekanntwerden breit rezipiert wird und somit den Status als zentraler Text der Ethik erhält, den es bis heute innehat (vgl. Perkams 2014, 11–23). Ermöglicht wird diese Entwicklung, nach einer bereits intensiven Phase der Beschäftigung mit ersten Teilübersetzungen der Nikomachischen Ethik ins Lateinische (Kommentare in Gauthier 1959, 115–118; genauere Informationen s. Wieland 1981), durch die vollständige Übertragung, die Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln (ca. 1170–1253), 1246/47 mithilfe griechischer Mitarbeiter erstellt. Seine Edition macht die Nikomachische Ethik durch Übersetzungen der erhaltenen antiken und byzantinischen griechischen Kommentare sowie durch umfangreiche Anmerkungen für den lateinischsprachigen Leser leichter verständlich (Gauthier 1959, 120–122) und schafft so die Grundlage, auf der die komplette Nikomachische Ethik in lateinischer Sprache interpretiert werden kann. Dies wird erstmals 1250–1252 in Köln durch den Dominikanermönch Albertus Magnus bzw. Albert den Großen (ca. 1200–1280) geleistet.
Albert erklärt in seinem umfangreichen Kommentar mit dem Titel Super Ethica (Über das Buch ‚Ethik‘) nicht nur den Wortsinn jeder einzelnen Passage der Nikomachischen Ethik, sondern er diskutiert auch zu jedem einzelnen Abschnitt diejenigen Probleme, die der aristotelische Text vor dem Hintergrund der Annahmen seiner Zeit stellt. In diesem Zusammenhang bringt er die eben angesprochenen Fragen nach universalen ethischen Regeln und dem individuellen vernunftgestützten Gewissensurteil mit der aristotelischen Konzeption in Verbindung und schafft eine erste Synthese aus beidem, die von seinem Schüler Thomas von Aquin (1224/25–1274) aufgegriffen und vor allem in seiner Summa theologiae prägnant dargestellt wird. (Zu Aktualisierungsprozessen aristotelischer Ethik im 13. Jahrhundert Fuchs 2017, 25–138.)