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3.3.3. Die Rolle der Tugend für die Richtigkeit des Meinens
ОглавлениеEntscheidend ist nun, dass das Erfassen dieses Zieles ebenfalls auf rationale Weise geschieht. Einen Hinweis hierauf stellt die Erwähnung des Meinens (doxa) in der Eudemischen Ethik, die gerade betrachtet wurde. Was dieses Vermögen ist, lässt sich anhand einiger Aussagen aus NE VI näher bestimmen: 1. unterscheidet sich das Meinen dadurch von jeglicher überlegender Rationalität, inklusive der Klugheit, dass es keine Suche (zētēsis), sondern eine Behauptung bzw. Überzeugung (phasis) ist (NE VI 10, 1142b13–15; 12, 1143b13f.). Während es dies mit dem Wissen (epistēmē) gemeinsam hat, unterscheidet sich das Meinen 2. von diesem, weil es falsch sein kann und weil es sich auf veränderliche Gegenstände bezieht (NE VI 3, 1139b17–21; 10, 1142b10). Das ist auch dadurch garantiert, dass |21|Wissen auf Beweisen beruht, während Meinungen nicht beweisbar sein können (NE VI 3, 1139b25–35; 12, 1143b12f.).
Als eine Überzeugung über veränderliche Gegenstände ist das Meinen demnach genau die Instanz, die ein Handeln anleiten kann. Denn die Klugheit, die sich auf dieselben Gegenstände bezieht (NE VI 11, 1143a14f.), ist eine Überlegung (būleusis), also ein Prozess und nicht, wie das Meinen, dessen möglicher Ausgangspunkt. Aus diesen Besonderheiten des Meinens heraus ist auch zu erklären, dass Aristoteles die Zielauffassung an mehreren Stellen im fünften Buch nicht der eigenen Erkenntnis des Individuums zuschreibt, sondern dem kompetenten Rat anderer (NE VI 11, 1143a15; 12, 1143b11–13; 13, 1143b30–32). Er geht also davon aus, dass unsere Zielauffassung letztlich nicht auf einem gesicherten oder auch nur deduktiv absicherbaren Wissen beruht, sondern auf einer Überzeugung, die sich als falsch erweisen kann. Obwohl rational und bewusst gefasst, behalten unsere Handlungsziele also stets ein hohes Maß an Unsicherheit, insofern sie nur ein rational nicht voll absicherbares Meinen ins Spiel bringen.
Genau an dieser Stelle gilt es nun auf den Begriff der Tugend zurückzukommen. Hierzu vermerkt Aristoteles im zweiten Buch der Eudemischen Ethik, dass das Wollen (būlēsis) und praktische Wissen, im Gegensatz zu einem Vermögen wie dem Sehen, auf entgegengesetzte Ziele gerichtet sein kann, nämlich nicht nur auf das Gute (to agathon), sondern auch auf ein scheinbares Gut (to phainomenon agathon) bzw. etwas Schlechtes (to kakon. II 10, 1227a22–30). Diese Bemerkung wird dann auf aufschlussreiche Weise näher erläutert:
Die Täuschung geht nicht in beliebige Richtungen, sondern auf die Gegenteile davon, wovon sie ein Gegenteil ist, und auf diejenigen Gegenteile, welche dem Wissen nach Gegenteile sind. Also muss auch die Täuschung und die Vorzugswahl vom Mittleren aus auf dessen Gegenteile hin geschehen […] Der Grund dafür ist aber das Angenehme und das Unangenehme. (EE II 10, 1227a33–38)
Diese Stelle bringt in aufschlussreicher Weise die bis jetzt nachgezeichneten aristotelischen Argumentationslinien miteinander in Verbindung und setzt sie in Beziehung zu einer weiteren zentralen Doktrin von Aristoteles’ Ethik, nämlich der Lehre von der richtigen Mitte. Die Tugend lenkt das Streben durch Festlegung der Empfindungen „angenehm“ und „unangenehm“ immer auf diejenige Möglichkeit, die innerhalb eines Handlungsbereichs die rechte Option bedeutet, nämlich auf die Mitte. Hierdurch gibt sie das Ziel für alle Einzelhandlungen vor, die in diesem Sinne durchaus als die eingangs genannten „constitutive ends“ verstanden werden können. Damit setzt sie zwar eine rationale Überzeugung voraus – „In allem ist das Mittlere in Bezug auf uns das Beste. Dies ist aber so, wie das Wissen und die Vernunft befiehlt“ (hōs hē epistēmē keleuei kai ho logos. II 3, 1220b27f.) – aber diese kann nur dann richtig sein, weil das Urteil nicht zu stark oder in falscher Weise von unseren Emotionen geprägt ist (vgl. NE VI 5, 1140b11–20; NE VI 8, 1151b15–20), so dass wir nicht mehr das wirklich in der Mitte Liegende als angenehm empfinden.