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|9|2. Die Praxis als Handlungsbeschreibung bei Platon
ОглавлениеPlatons Annäherung an die Problematik der Praxis geht von Sokrates’ Diskussionen mit den Sophisten aus, einer Gruppe von Denkern und Lehrern einer erfolgreichen politischen Lebensführung, die zu seiner Zeit großen Einfluss auf die Athener Oberschicht besitzt. Die grundsätzlichen Probleme, die Platon, vielleicht auf Anregung seines Lehrers Sokrates, in sophistischen Konzeptualisierungen der Praxis sah, ohne dass er diesen grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden hätte, führen in seinem Frühdialog Charmides zu einer begrifflichen Hinterfragung des Konzepts von Praxis: Hier nimmt die Dialogfigur Sokrates die vom Politiker und Sophisten Kritias vorgetragene grundsätzliche Differenzierung des Handlungsbegriffs in ein nicht sittlich qualifiziertes Tun (griechisch poiein) und ein moralisch womöglich gutes Handeln nicht auf, das Kritias mit dem Verb prattein bzw. dessen substantivierter Form praxis, bezeichnen möchte. Insbesondere weist er die Annahme zurück, das Tun des Guten (griechisch praxis tōn agathōn) sei selbst die Tugend der Besonnenheit, da ja der (gute) Nutzen oder (schlechte) Schaden, der aus einer Handlung resultiere, auch dem besonnen Handelnden nicht unbedingt bekannt sei (Charmides, 163b–164c; vgl. Symposion 205b8–c2). Hier wird bereits deutlich, dass für Platon – wie für alle hier behandelten Autoren – die Behandlung menschlicher Praxis durch eine Analyse und Beschreibung des praktisch relevanten Wissens erfolgen muss, die durch rein begriffliche Unterscheidungen nicht zu leisten ist, da dies Wissen letztlich in der konkreten Situation angemessene Handlungsoptionen aufweisen muss, die entsprechend der Vielfalt der Praxis sehr vielfältig sein können.
Die Rolle des Wissens wird in dem etwas späteren Dialog Protagoras noch mehr herausgestellt, der von der These des Sophisten Protagoras ausgeht, dass Tugend grundsätzlich lehr- und lernbar sei, was Sokrates bezweifelt (320b). Als Antwort erklärt Protagoras mit einem Mythos die Unterschiede zwischen der Ausübung einer bestimmten Fertigkeit, z.B. der Heilkunst, die von bestimmten Menschen gelernt und gelehrt werden kann, sowie einer Tugend wie der Gerechtigkeit, die zwar allen Menschen in gleichem Maße zukommt, die aber auch von allen erlernt werden muss (321c–322d). Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden die Schwierigkeiten des somit erforderlichen Lernprozesses durch konstantes Nachfragen des Sokrates verdeutlicht. Er hinterfragt insbesondere die Annahme, dass die Tugenden jeweils etwas Verschiedenes sind (328d–334c, 348c–353b), und stellt die These auf, dass jeder das tut, was er als gut, d.h. als lustbringend, erkannt hat (351d–360e).
Ähnliche Punkte werden auch im etwa zeitgleichen Dialog Gorgias angesprochen. Hier beginnt Platon mit einer Unterscheidung verschiedener Formen des Handelns nach deren Gegenständen, ob sie etwa auf körperliche Gegenstände oder auf Worte ausgerichtet sind (449c6–454a5). Diese Typologie wird auch hier zur Frage nach den auf die Polis bezogenen Tätigkeiten zugespitzt, die nicht nur im weitesten Sinn produktive Fertigkeiten sind, sondern nur mit einer sittlichen |10|Zielsetzung überhaupt sinnvoll vollzogen werden können. Rhetorische bzw. politische Lehre muss daher durch die Einbeziehung einer normativen Dimension fundiert sein, wie gegenüber den Sophisten festgehalten wird (454b5–461b2). In beiden Dialogen wird somit die politische Aktivität als herausgehobene Form von Praxis zum Thema, deren Behandlung freilich besondere Schwierigkeiten aufwirft, weil sie nicht wie ein spezifisches Handwerk vermittelt werden kann. Zwar wird auch für sie die Bedeutung des Wissens als Vergleichsgrundlage zwischen verschiedenen möglichen Handlungsalternativen herausgehoben, doch überwiegt insgesamt die Hinterfragung der sophistischen Positionen, also die eigentlich konstruktive philosophische Begriffsarbeit.
Auch in weiteren Dialogen bleiben die angesprochenen Themen zentral für die platonische Gedankenentwicklung, wobei die Wurzel prattein/praxis weiterhin häufig verwendet wird, um dasjenige Handeln zu beschreiben, das zum menschlichen Glück (eudaimonia) führt (Charmides 172a1–3; Euthydemos 279e3–6; vgl. Bien 1989, 1277). Handlungstheoretisch erweist sich dabei insbesondere als zentral, wie das für den Menschen Angenehme (hêdy) richtig zu verstehen ist: Auf die Dauer und im Ganzen fällt es für Platon mit dem sittlich Guten zusammen und ist durch dieses zu definieren (Protagoras 354a3–356c3), so dass das sittlich Gute nur erstrebt werden kann, allein weil es angenehm ist (Philebos 20e1–22a6).
Insgesamt gibt sich Platon nicht damit zufrieden, die (seiner Meinung nach) auf unreflektierte Nützlichkeitserwägungen abzielende sophistische Handlungstheorie mit Argumenten aus der Praxis selbst zu bekämpfen. Vielmehr sucht er zu einer begründeten Einschätzung des sittlichen Wertes menschlicher Handlungen zu gelangen, als deren Ausdruck er die philosophische Lebensführung ansieht, die sich gerade nicht an äußerem Erfolg orientiert (Gorgias 500c 1–9; Phaidon 69c3–d4; Euthydemos 282c1–d2; vgl. Kauffmann 1993, 79f.). Als Gegenmodell hierzu wird insbesondere die Disposition des recht Handelnden untersucht, die in der Politeia als die Gerechtigkeit (dikaiosynē) bestimmt wird, die durch die rechte Zuordnung der verschiedenen Elemente gekennzeichnet ist (Politeia 441d5–e7). Dass diese Zuordnung nicht beliebig ist, wird in der Politeia durch den Vergleich mit der Ordnung der Polis und im Gorgias durch einen mit der Struktur des Kosmos verdeutlicht (Gorgias 506d2–507a2). In den Nomoi ist es die rechte Beachtung des Ganzen gegenüber den unwichtigen Details, die das gute Handeln gegenüber dem Schlechten ausmacht (901b1–c6).
Diese sittlich-normative Perspektive sollte es verbieten, Platons Philosophie als „poiētisch“ im gleich zu erläuternden aristotelischen Sinne zu charakterisieren (vgl. Buchheim 1986, 131–135) obwohl die gleichsam objektive Beurteilbarkeit menschlichen Handelns ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik ist (Kratylos 386e5–387b7, in Bezug auf technisches Handeln), die auch zur Heranziehung ontologischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Handelns führt (Philebos 18e3–19a2; vgl. Kauffmann 1993, 52–58). Auf diesem Weg führt die Frage nach dem rechten Praxiswissen hin zur Ideenlehre. Gegen die Annahme, dass das Bemühen um Sittlichkeit für Platon nur durch das |11|Streben danach, glücklich zu werden, motiviert sein kann bzw. darf, spricht andererseits das Gewicht, das er dem Guten als einer objektiven Größe beimisst. Es findet seinen deutlichsten Ausdruck in der herausgehobenen Stellung, die der Idee des Guten auch innerhalb bzw. jenseits des Seins der Ideenwelt zukommt (epekeina tês ūsias: Politeia 509b8f.). Hierbei wird die Idee des Guten sowohl als Grundlage jeglicher Erkenntnis als auch als Strebensziel thematisiert (vgl. Horn 2009, 166f.). Wenn auch die handlungstheoretischen Implikationen der Lehre von der Idee des Guten in der Politeia nicht ganz deutlich werden (vgl. Pfannkuche 1988, 169–183), so ist doch klar, dass die ontologische Dignität des höchsten Guten jedenfalls in die Beschreibung richtigen Handelns eingeht: Dieses muss dem Guten entsprechen, insofern es Autarkie (hikanon) und Vollkommenheit (teleon) aufweist (Philebos 20d1–10, 22b3–8; vgl. Kaufmann 1993, 61; Horn 2009, 162–164).
Ein konstanter Faktor von Platons Analyse des richtigen Handelns stellt weiterhin die Beschäftigung mit der praxisleitenden Vernunft dar, die er, wie gesagt, als entscheidend für die Bestimmung menschlicher Praxis ansieht. Im Phaidon wird diese Vernunft deutlich von den sekundären Ursachen für das menschliche Handeln abgehoben: Die Ursache dafür, dass Sokrates im Gefängnis sitzt, ist die durch Vernunft (nôi) begründete Meinung (doxa) der Athener, dass er sterben soll, bzw. seine eigene Meinung, dass es besser sei, das Urteil zu akzeptieren, als sich durch Flucht zu retten; die körperlichen Ursachen, die die Möglichkeit zur Ausführung dieser Ansichten geben, sind dem gegenüber sekundär (98b7–99b6; vgl. Politikos 281e 1–5). Auch noch in den späten Nomoi ist es die Vernunft, durch die jemand gut handelt, während das Fehlen vernünftiger Einsicht gleich zum schlechten Handeln führt (Nomoi 897b1–4). Im Hintergrund steht hier die Ansicht, dass der ganze Kosmos letztlich durch rationale Ursachen bestimmt wird, denen gegenüber auch die Wirkkraft der Gestirne sekundär ist (Nomoi 892b5–8).
Es ist also durchaus korrekt zu behaupten, dass die Praxis bereits ein zentrales Thema von Platons Philosophie darstellt, zu dessen Erhellung viele in den Dialogen verhandelte Gegenstände beitragen. Tatsächlich sind diese Überlegungen in vielerlei Hinsicht, z.B. im Hinblick auf die Möglichkeit der Erlernbarkeit von Praxis, bis heute aufschlussreich, wobei den Hinweisen auf die Notwendigkeit eines Bemühens um ein objektiv gutes Handeln besondere Bedeutung zukommt. Gerade die Vielfalt der Ansätze führt andererseits dazu, dass eine geschlossene Praxistheorie bei Platon noch nicht zu finden ist, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil er zu wichtigen Themen anscheinend keine abschließende Lösung erkennen kann. Das gilt insbesondere in der Frage nach dem Verhältnis von Glücksstreben und der Berücksichtigung objektiv geltender Normen, aber auch in der Frage, inwieweit ein Wissen allein, ohne Beteiligung anderer Seelenvermögen, ausreicht, um gute Praxis zu garantieren.