Читать книгу Philosophien der Praxis - Группа авторов - Страница 6
1. Vorbemerkungen
ОглавлениеDie Praxis ist bereits früh zum Thema der Philosophie geworden, und zwar sowohl als Wort als auch als ein Problemfeld eigener Art. Dabei wurden bereits von Platon (ca. 428–347 v. Chr.) und insbesondere von Aristoteles (384–322 v. Chr.) Zugangsweisen und Konzeptualisierungen entwickelt, die den Besonderheiten der Praxis Rechnung tragen und eine wissenschaftliche Rede hierüber ermöglichen sollen. Aufgrund neuer Begriffs- und Problemfelder haben diese Praxistheorien in der späteren Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit das Denken angeregt und zu weiteren Ausarbeitungen Anlass gegeben, unter denen der Ansatz des Thomas von Aquin (1224/25–1274) durch die Berücksichtigung vieler Gesichtspunkte der Einheit und Vielheit menschlichen Handelns eine besondere Differenziertheit erreicht.
Schon den aristotelischen Überlegungen liegt ein sehr weites Verständnis von Praxis zugrunde, bei der jedes Handeln insofern als Praxis gelten kann, als es von intrinsischer Bedeutung für ein gelingendes menschliches Leben ist. Diese Globalperspektive bedeutet freilich nicht, dass eine Fokussierung des Praxisbegriffs auf einzelne Handlungsvollzüge nicht stattfände: Vielmehr gelingt Praxis gerade dadurch, dass jemand entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Situation auf gute Weise aktiv ist. Eine solche Praxis durch dauerhaft erworbene, das Handeln prägende Charakterzüge des Einzelnen, die Tugenden, ermöglicht. Hierbei bewirken im aristotelischen Modell die ‚ethischen Tugenden‘, dass die emotionale Seite unseres Charakters auf ein maßvolles Handeln gerichtet ist, das im Einzelfall durch Zusammenwirken mit der Klugheit gelingt, einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, welche im konkreten Handeln die richtigen Mittel und Wege finden kann. Der hiermit gegebene Fokus auf die Besonderheit einzelner Situationen und Akteure, aber auch auf die Einbringung von Wissen in den Vollzug einer Handlung macht die aristotelische Theorie bis heute zu einem dauernden, nicht überholten Referenzpunkt für das philosophische Nachdenken über menschliche Praxis.
|8|Eher indirekt berücksichtigt der aristotelische Ansatz auch ein Problem menschlicher Praxis, mit dem sich bereits Aristoteles’ Lehrer Platon auseinandergesetzt hatte: Wie lässt sich sicherstellen, dass menschliche Praxis nicht nur in der Sache erfolgreich ist, sondern auch tatsächlich gut und gerecht durchgeführt wird? Der damit angezeigten moralischen bzw. normativen Dimension guten Handelns (zu den Kriterien normativen Handelns s. Birnbacher 2003, 12–43) entspricht der aristotelische Ansatz insofern, als der aristotelische gute Akteur, der ‚Tüchtige‘ (ho spūdaios) mit Freude das Gute und somit auch das Gerechte tun wird; die von Platon insbesondere in der Politeia behandelten Fragen, warum es für den Einzelnen besser ist, gerecht, also moralisch gut, und eventuell (zumindest dem Anschein nach) erfolglos zu handeln als schlecht und erfolgreich, werden jedoch in der aristotelischen Philosophie nicht explizit adressiert: Aufgrund von Aristoteles’ Konzentration auf die begriffliche Klärung der Bestimmung des im Sinne des Glücklich-Seins (hē eudaimonia) gelingenden Lebens und der charakterlichen Voraussetzungen dafür, tritt die Frage danach, wann ein Handeln gerecht bzw. oder, wenn man so will, im moralischen Sinne gut ist, etwas in den Hintergrund.
Das ist der Punkt, an den die Position des Thomas von Aquin in besonders interessanter Weise anschließt: Thomas verbindet das aristotelische Konzept der Praxis mit einer Deutung der menschlichen Vernunft als ein ‚Naturgesetz‘, aufgrund dessen die Klugheit als praktische Vernunft sowohl grundlegende Ziele des menschlichen Lebens als auch Normen für das individuelle und das gesellschaftlich-staatliche Zusammenleben im Lebensvollzug realisieren kann. Zum Gegenstand philosophischer Theorie wird hierbei auch die Möglichkeit (für Personen und selbstregulierte Institutionen) von etablierter Praxis und geltenden Gesetzen sowie von verfestigten Gewohnheiten und Charakterzügen durch bewusste Willensentscheidungen abzuweichen, indem universale Regeln und Normen individuell berücksichtigt werden. Ermöglicht wird das insbesondere durch die differenzierte Beurteilung von Gesetzen mittels praktischer Vernunft als handlungsleitender Klugheit und kritisch urteilendem Gewissen. Eine Notwendigkeit zur Nichtanerkennung, Veränderung und Weiterentwicklung von Gesetzen sowie die Legitimität dieser kritischen Praxis selbst werden so berücksichtigt. Somit kann Thomas’ Ansatz als eine Theorie individuell-rationaler Selbstbestimmung vor einem normativen Horizont beschrieben und auf aktuelle Fragestellungen bezogen werden (vgl. Perkams 2008).
Im Folgenden sollen insbesondere diese drei Ansätze, in ihrer zeitlichen Abfolge, ihren Grundzügen nach vorgestellt und als Theorien rational geleiteter guter Praxis gedeutet werden. Zwischengeschaltet ist ein kurzer Abschnitt, der die wichtigsten systematisch-begrifflichen Entwicklungen nachzeichnet, welche die im Vergleich zur Antike veränderte Perspektive des Thomas von Aquin historisch bedingen. Schließlich folgt ein ausführliches Schlusswort.