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4.4. Das Naturrecht und die Begründung von Moralität

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Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie Thomas das Gute als das im Allgemeinen Sinne Erstrebenswerte vom Guten im moralischen Sinne abgrenzt. Grundsätzlich ist klar, dass viele naturgesetzliche Vorschriften bzw. Verstöße gegen sie, wie sie eben zusammengestellt wurden, keine spezifisch moralischen Normen im Sinne von Anweisungen zu gerechtem Handeln oder von universalen Verboten bedeuten. Verstöße gegen einige von Thomas angeführte Beispiele – Selbsterhaltung, Wissenserwerb, gemeinschaftliches Leben – würde man im Normalfall nicht im moralischen Sinn als schlecht ansehen. Genauso wenig ist es automatisch moralisch gut, wenn wir uns fortpflanzen oder mit anderen zusammenleben. Wenn Thomas selbst alle diese Handlungen auf „moralische“ im Unterschied zu „zeremoniellen“ Handlungsregeln zurückführt (I-II, 100, 1), zeigt dies, dass er den Begriff „moralisch“ in einem sehr weiten Sinn gebraucht, der keine Konzentration der Ethik auf besonders verpflichtende Verhaltensnormen bedeutet. Der Zusammenhang seiner Naturgesetzlehre mit dem, was man heute moralische Normen nennen würde, ist also nicht unmittelbar klar (vgl. Grisez 1965, 185f.).

Das hängt mit der eudaimonistischen Perspektive zusammen, die Thomas von Aristoteles übernimmt: Anders als utilitaristische und deontologische Ethiken, denen zufolge bestimmte Taten im moralischen Sinn geboten oder verboten, andere aber indifferent sind, ist Thomas zufolge jede einzelne Handlung eines Menschen (I-II 18, 9) gut oder schlecht, insofern sie zum Leben dieses Menschen bzw. zum höchsten Ziel des menschlichen Lebens beiträgt, glücklich zu werden, oder eben nicht. In dieser Perspektive ist es für ihn weniger wichtig, die Besonderheit normativer Ansprüche herauszuarbeiten, als diejenigen Werte darzustellen, die für ein glückliches Leben im Allgemeinen wichtig sind. Andererseits steht es natürlich auch für Thomas als christlichen Theologen außer Zweifel, dass bestimmte Handlungen, nämlich Sünden, mit einer guten Lebensführung prinzipiell unvereinbar sind. An dieser Stelle kann es freilich nur um die Frage gehen, inwieweit sich die Schlechtigkeit solcher Handlungen anhand des Naturgesetzes aufweisen lässt. Die theologische Begründungsdimension, die bei Thomas selbst eine wichtige Rolle spielt, lasse ich aus methodischen Gründen außer Acht.

Eine erste Möglichkeit, dem Naturgesetz zuwider zu handeln, besteht für Thomas darin, dass jemand Güter als Lebensziel wählt, die damit überhaupt nicht vereinbar sind, zum Beispiel Reichtum. Denn Reichtum ist kein wirkliches, dem Naturgesetz entsprechendes, sondern nur ein vermeintliches Gut, das nicht geeignet ist, das gesamte Leben unter eine sinnvolle Zielperspektive zu stellen (I-II 2, 1). Jede Handlung, die von einem derartigen Ziel motiviert ist, ist für Thomas |30|bereits eine Sünde. Thomas interessiert sich also nicht nur, wie viele moderne Philosophen, für Handlungen, die in ihrer Art schlecht und daher kategorisch verboten sind; in erster Linie ist Sünde für ihn vielmehr dadurch charakterisiert, dass der Handelnde Absichten verfolgt, die selbst nicht intrinsisch gut sind. Daher kann für Thomas nahezu jede Handlung in gewissem Sinne schlecht sein, wenn sie mit den natürlichen Zielen prinzipiell nicht vereinbar ist.

Neben dieser allgemeinen Charakterisierung schlechten Handelns kennt Thomas bestimmte Handlungstypen, die prinzipiell verboten sind. Mord und Diebstahl sind in diesem Sinne moralisch schlechte Taten und können durch kein noch so gutes Ziel gerechtfertigt werden (I-II, 18, 8. 19, 10 [est secundum naturam mala occisio]. 73, 3; vgl. auch Quodlibet 8, 6, 4 u. 9, 7, 2)). Hierfür liefert Thomas eine Begründung anhand des Naturgesetzes, die auf dessen innere Komplexität rekurriert. Sowohl das Tötungs- als auch das Diebstahlsverbot werden, ebenso wie andere Regeln des Dekalogs auf die allgemeinere Regel zurückgeführt, dass man niemandem schaden bzw. Übles tun darf (I-II, 100, 5 c.a. u. ad 4). Auch das Gebot, Geliehenes zurückzugeben, ist für Thomas eine eigentümliche Schlussfolgerung (conclusio propria) aus der naturgesetzlichen Regel, man müsse im Handeln der Vernunft folgen (I-II, 94, 4). Derartige Ver- und Gebote sind demnach naturgesetzliche Regeln zweiter Ordnung (secundaria praecepta), die aus den allgemeinsten Prämissen des Naturgesetzes durch eine logische Ableitung gewonnen werden (I-II, 94, 6).

Beispiele für solche allgemeinsten Prämissen sind offenbar die beiden Regeln, niemandem Schaden zuzufügen und nach der Vernunft zu handeln. Wie sie mit der bis jetzt geschilderten Struktur des Naturgesetzes zusammenhängen, ergibt sich, wenn man in der in Summa theologiae 94, 2 zu findenden Liste bei denjenigen natürlichen Zielen ansetzt, die typisch für den Menschen als rationale Wesen sind, und zwar konkreter bei der natürlichen Notwendigkeit eines Lebens in Gemeinschaft (I-II, 94, 2 c.a). Hiermit ist der Ansatzpunkt bezeichnet, aus dem heraus Regeln wie das Verbot von Tötung und Diebstahl oder das Gebot, Geliehenes zurückzugeben, ihre Gültigkeit erlangen. Denn die zur Begründung dieser Gebote fundamentale Regel, niemandem zu schaden, ist offensichtlich dem hier genannten Verbot, Mitmenschen zu verletzen, eng verwandt. Allen in diesem Abschnitt als Begründung spezifisch moralischer Normen genannten Regeln ist gemeinsam, dass es sich bei ihnen um Regeln des sozialen Zusammenlebens handelt.

Dieser Zusammenhang des Naturgesetzes der Vernunft mit unserer sozialen Verfasstheit erklärt sich, wenn man sich die Bedeutung klarmacht, die das soziale Leben für den Aristoteliker Thomas von Natur aus für den Menschen besitzt: Die menschliche Gemeinschaft ist der Ort, wo aus den ganz allgemeinen Regeln des Naturgesetzes konkrete Normen des Zusammenlebens werden, die es überhaupt erst möglich machen, dass einzelne Menschen ihr Leben selbst bestimmen (I-II 95–96). Die soziale Natur des Menschen bringt es mit sich, dass die fundamentalen Regeln des sozialen Lebens ein ursprünglicher Bestandteil seiner praktischen Vernunft sind, wie sie sich im Naturgesetz ausdrückt. Diese |31|Bedeutung der sozialen Dimension zeigt sich auch daran, dass Thomas den Vorrang des Gemeinwohls (bonum commune) vor dem Wohl des Einzelnen ausdrücklich betont und hierin den entscheidenden Ansatzpunkt für die Gesetzgebung sieht (I-II, 90, 2. 96, 1). Diese Gesetzgebung hat ihrerseits den Regeln der Gerechtigkeit zu entsprechen, die für Thomas so zentral ist, dass er die sogenannte allgemeine Gerechtigkeit (iustitia generalis) zur inhaltlichen Leitlinie aller natürlichen Tugenden erhebt (II-II, 58, 5; formale Bedingung der Tugenden ist aber natürlich die Klugheit (prudentia) s. I-II, 73, 1 ad 2). Von hier ergibt sich der Sinn menschlicher Gesetze überhaupt:

Denn das menschliche Gesetz ist auf die zivile Gemeinschaft hingeordnet, die die der Menschen untereinander ist. […] Eine solche Kommunikation unterliegt aber der Vernunft der Gerechtigkeit, die spezifisch auf die Leitung der menschlichen Gemeinschaft hingeordnet ist. Daher legt das menschliche Gesetz keine anderen Vorschriften vor als die der Akte der Gerechtigkeit. (I-II, 100, 3)

Man kann daher die Grundregel der Gerechtigkeit, „jedem sein Recht zuzuteilen“ (ius suum cuique distribuere; II-II, 58, 1), die das naturgesetzliche Grundgebot für die Entwicklung gerechter Gesellschaften darstellt, als soziale Parallelnorm zu der Anweisung ansehen, niemandem zu schaden, wobei beide Gebote den Sinn des jeweils anderen zu erläutern imstande sind: Während das Verbot der Schädigung des Mitmenschen gewisse Handlungen kategorisch ausschließt, ermahnt das Gebot der Gerechtigkeit dazu, für jeden Menschen Lebensmöglichkeiten zu schaffen, die seinen natürlichen Anlagen entsprechen. Auch Thomas zufolge wird dabei das aufgrund der Gerechtigkeit zuzuteilende Recht einem Menschen bereits insofern geschuldet, als er „etwas in eigener Weise Existierendes, von den anderen Verschiedenes“, also insofern er Mensch ist (II-II, 57, 4 ad 2; s. hierzu: Honnefelder 1989, 88). Dieser Gedanke wäre für eine moderne Rekonstruktion des Naturgesetzes als Grundlage einer Sozialphilosophie weiter auszubauen (s. Korff 1987). Jedenfalls begründet das Naturgesetz nicht nur eine individuelle Moral, sondern fordert, die sozialen Grundlagen dafür zu schaffen, dass alle einer Gesellschaft zugehörigen Menschen den Regeln ihrer natürlichen Vernunft entsprechend leben und sich entwickeln können.

Moralische Ge- und Verbote hängen demzufolge nach der thomasischen Naturgesetzlehre nicht einfach von einer metaphysischen Grundlage ab (vgl. Ashley 2004, 16), sondern sind stets sozial vermittelt. Das macht sie aber nicht vollkommen abhängig von den konkreten Gemeinschaften, in denen Menschen leben. Denn in den genannten Grundregeln, „niemandem zu schaden“ und „jedem das Seine zuzuteilen“, drückt sich aus, was das Grundgebot, „das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen“ im Hinblick auf moralische Fragen bedeutet. Daher sind auch gewisse Grundpfeiler des Zusammenlebens für Thomas gleichsam apriorische Vernunftgebote, so dass Regelungen gegen Diebstahl und Mord oder zur Sicherung des Tausch- und Geschäftsverkehrs in jeder Gesellschaft eine Rolle spielen müssen.

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