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1.1 Ein Beispiel: Schildkröte und Tapir

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Die Schildkröte,4 das sind gute Leute, es sind keine schlechten Leute. Sie sammelte Früchte unter dem Baum der Balsampflaume. Doch der Tapir Juruparí kam und sagte zu ihr »Hau ab hier, sonst stampfe ich dich in die Erde.« »Stampf doch, mal sehen ob du die Kraft dazu hast!« Und der Tapir stampfte die Schildkröte in die Erde und rannte davon. »Warte nur, Juruparí, wenn die Regenzeit kommt, gehe ich deiner Spur nach. Ich werde es dir heimzahlen, dass du mich begraben hast.« In der Regenzeit krabbelte die Schildkröte wieder ans Tageslicht und verfolgte den Tapir, indem sie seine Spuren befragte. Sie fragte den kleinen Fluss: »Fluss, wo ist dein Herr?« – Fluss: »Weiß ich nicht. Ich weiß, was mein Vater dir angetan hat. Lass ihn in Ruhe schlafen.« Die Schildkröte fand schließlich den schlafenden Tapir und sprach: »Es heißt, dass Feuer verschlingt alles.« Dann zog sie heftig am Skrotum des Tapirs. Der floh, und nach zwei Tagen war er tot. Schildkröte: »Habe ich dich jetzt getötet oder etwa nicht? Jetzt werde ich meine Verwandten holen, damit sie dich aufessen.«5

Diese Erzählung ist aus dem Amazonasbecken in zahlreichen, immer wieder etwas abweichenden Varianten bis in neueste Zeit überliefert. Unsere Version hier stammt aus dem brasilianischen Nordwest-Amazonien und wurde 1876 von dem Offizier José Vieira Couto de Magalhães auf Nheengatú (einer damals dort weit verbreiteten lingua franca) und in portugiesischer Übersetzung publiziert. 1927 veröffentlichte der Missionar Pater Constantin Tastevin den gleichen Nheengatú-Text nochmals, übersetzte ihn aber neu, und hinter feinen Unterschieden der Übersetzung scheinen verschiedene Interpretationen durch.

So ist es eine nur scheinbar unwichtige Frage des Stils der Übersetzung, wenn Magalhães den Eingangssatz über die Schildkröte übersetzt mit »das sind gute Leute, es sind keine schlechten Leute«, während Tastevin ganz leicht anders überträgt: »sie haben keinerlei Schlechtigkeit«.6 Die missionarische Übersetzung ist einen Tick moralisierender und lässt an unschuldige Wilde vor dem Sündenfall denken. Der Originaltext hingegen enthält eine für Mythen aus dem Amazonasgebiet charakteristische, rhetorische Gegenüberstellung von Gegensätzen: Einerseits, andererseits. Auch durch den weiteren Text ziehen sich solche Gegenüberstellungen. Wenn wir hören, dass die Schildkröte gut ist, können wir erwarten, dass bald jemand auftaucht, der schlecht ist. Doch ist das meist kein moralisches Gegenüber von Gut und Böse, sondern das Wechselspiel zweier Prinzipien, die beide notwendig sind. Damit die Schildkröten aus ihren Eiern im Boden schlüpfen können, müssen sie erst einmal gut in den Boden eingestampft werden, und das erledigt hier der Tapir. In amazonensischen Weltbildern ist mit dem »Vorhandensein zweier gegensätzlicher Prinzipien« selten der erst durch das Christentum hineingetragene Gegensatz des »reinen ›Gut‹ und ›Böse‹« gemeint.7 Eine fromme Moral finden wir in diesen Mythen ebenso wenig wie in der antiken Mythologie. Die rollenden Köpfe in Mythen der Witoto beispielsweise sollen nicht heißen, dass man Köpfe abhacken soll. Sie wurden manchmal als am Himmel rollender Mond gedeutet, können aber ebenso auch die historische Erinnerung an die sogenannten Kautschukgräuel um die vorige Jahrhundertwende bewahren, bei denen Witoto (und andere Indigene), die nicht genügend Kautschuk ablieferten, massenhaft ernordet wurden.

In der Erzählung lassen sich mindestens drei verschiedene Bezüge erkennen: 1. zum Himmel mit seinen Gestirnen; 2. zu den Jahreszeiten und damit zur Landwirtschaft; 3. zur Gesellschaftsordnung.

Zu 1. dem Himmel: Bisweilen werden die Schildkröten mit dem Sternbild der Plejaden assoziiert. Tatsächlich sind es meist mehrere Schildkröten,8 die am Himmel einen Haufen bilden. Die Assoziation ist jedoch nicht allgemein – im östlichen Südamerika finden wir keinen einheitlichen Code von Tieren und Gestirnen. In manchen Erzählungen steigen die Schildkröten nach ihrer Tat zum Himmel empor und werden zu den Plejaden, manchmal freilich auch zu einem anderen, benachbarten Sternbild.9 In weiten Teilen Amazoniens künden die Plejaden die Zeit an, in der gepflanzt wird. Wenn sie wieder verschwinden, bedeutet dies dann »Überfluß an Nahrung. Mit dem Steigen der Gewässer gehen dichte Züge von Fischen die Nebenflüsse aufwärts […]. So können wir geradezu von einem ›Plejadenjahr‹ […] reden«10.

Charles Frederick Hartt, der 1875 eine andere Version der gleichen Geschichte veröffentlichte, sah einen Bezug auf Gestirne: Der Tapir ist die Sonne, die Schildkröte der Mond. Die aufgehende Sonne (und »Sonne« meint wohl auch die Zeit, in der die Sonne heftiger brennt, also die Trockenzeit, zu deren Beginn, wie wir sahen, die Schildkröten in den Boden gestampft werden) löscht den Mond (die Schildkröte) aus und begräbt sie, doch nach etlicher Zeit geht der neue Mond auf und beginnt die Verfolgung der Sonne. Oder ist nicht umgekehrt die Sonne die Schildkröte?11 Die westliche Spekulation verheddert sich hier, wohl auch weil Trocken- und Regenzeit im Amazonasgebiet unterschiedliche Termine haben. Aber jedenfalls drücken weitere Versionen der Geschichte einen klaren Bezug zu Gestirnen aus.

Zu 2. den Jahreszeiten: Couto de Magalhães, Kenner der Region und ihrer Tierwelt, sah eine Tierfabel mit genauer Naturbeobachtung.12 Schildkröte und Tapir mögen wenig gemein haben, doch eines fiel ihm auf: beide Tiere lieben die gleiche Frucht, die Balsampflaume (Spondias spec.). So erklärt er sich, warum sie sich in der Fabel in die Quere kommen. Die Frucht reift zu Beginn der Trockenzeit, zu dieser Zeit also wäre die Schildkröte in den Boden gestampft worden. Ihre Zeit unter der Erde (in etwa die Trockenzeit) ist die Periode, in der die Schildkröte sich verkriecht. Sie kommt erst zu Beginn oder kurz vor der Regenzeit wieder aus der Erde hervor, und etwa um diese Zeit schlüpfen auch die Jungen aus den Eiern.

Einen möglichen Hinweis auf die amazonensische Landwirtschaft erwähnen beide Interpreten nicht: Die Schildkröte, die den Tapir an den Hoden zieht, sagt im Originaltext auf Nheengatú (meine Übersetzung): »Das Feuer, sagt man, brennt überall.« Couto de Magalhães übersetzte leicht abweichend: »Das Feuer, sagt man, verschlingt alles«, und merkte dazu an, es handele sich um die indigene Variante von »Der Teufel soll alles holen.« Der Missionar Pater Tastevin übersetzte 1927 mit »Das Feuer hat keinen Respekt vor nichts«, und das fügte sich bei ihm zu dem Satz, mit dem der Tapir um Gnade bittet, und den der Missionar so übersetzte: »Um der Liebe Gottes willen …« 1876 hatte der weniger fromme Offizier Magalhães genauer (ohne die christliche Liebe) übersetzt: »Um des guten Gottes willen …«.13 Feuer ist aber im Amazonasgebiet auch ein jahreszeitliches Phänomen, und zwar kurz vor der Regenzeit: Dann brennen indigene und nicht-indigene Kleinbauern im traditionellen System der Brandrodung Wald ab, um neue Felder anzulegen (allerdings zu regional unterschiedlichen Monaten, da Trocken- und Regenzeit in verschiedenen Teilen des Amazonasgebietes unterschiedlich einsetzen). Je nach der Region wird doch just genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die jungen Schildkröten aus den Eiern geschlüpft sind, über weite Strecken Wald abgebrannt. Vielleicht dachte der Erzähler hier also weder an den Teufel noch an christlichen Respekt, sondern an die Jahreszeit, zu der Schildkröten geschlüpft sind, und zu der das landwirtschaftliche Jahr umbricht.

Zu 3. der Gesellschaft mit ihren Ritualen: In einigen amazonensischen Gesellschaften ist die Initiation der Jugendlichen in den Kreis der Erwachsenen mit dem Gedanken der Revolte gegen die Erwachsenen verbunden: Der junge Mensch (Mann oder Frau) rebelliert in der Pubertät gegen die Alten und wird Repressalien unterworfen, etwa muss er fasten und wird in einer dunklen Ecke festgehalten, die er nur nachts verlassen darf. Am Ende aber kommt er wieder ans Tageslicht und ist nun erwachsen. Manchmal feiert ein junges Paar, das sich offiziell jeglichen Kontakts enthalten musste, seinen Sieg über die Alten in einem öffentlichen Tanz, bei dem unausgesprochen klar wird, dass es das Verbot schon längst übertreten hat. Im Alto Xingu-Gebiet im südöstlichen Amazonasgebiet treten während der Initiationsphase ältere, schon initiierte Jugendliche auf und schießen auf eine Strohpuppe, wobei sie Ältere benennen, denen die Pfeile eigentlich gelten. Hier wird auch die Schildkröten-Erzählung mit dem Sieg der Jungen (der kleinen Schildkröten) über die Alten (den dicken Tapir) assoziiert.14

In unserer Version trägt der Tapir den Namen Juruparí. Der Missionar Tastevin übersetzt das mit diabo (Teufel), der Offizier Magalhães lässt den indigenen Namen stehen, fügt aber eine Fußnote an, das entspreche »mehr oder weniger unserem jüdischen Dämon, ohne so pervers wie dieser zu sein«.15 Jedenfalls erkannten beide Autoren, dass da kein gewöhnlicher Tapir die Schildkröten einstampft. Tatsächlich ist Juruparí in der Region, aus der unsere Version stammt, ein Waldgeist und gleichzeitig eine heilige Flöte, aus der heraus dieser Geist singt. In dem Aufsatz von Vutova in diesem Sammelband spielt er bei Menschen aus teils der gleichen, teils einer benachbarten Region eine Hauptrolle unter dem Namen Yuruparí/Kuwai. Durch seinen Körper voller Klang­löcher ertönt (lesen wir dort) »die Stimme des Universums«. Juruparí ist eine ganz wichtige Figur bei der Initiation der männlichen Jugendlichen, die ihn im Lauf der Initiationswochen immer mehr zu sehen bekommen.16 Wieder die Initiation also, und vielleicht auch wieder der Aufstieg der jugendlichen Initianden, die dem Tapir/Juruparí Paroli bieten können. Was sich in diesen verschiedenen Erklärungen verknüpft, ist auch in der indigenen Lebenswelt verflochten: Der Wechsel von Trocken- und Regenzeit, Anpflanzen und Roden, Initiationsriten, der (gerne in Ritualen theatralisierte) Konflikt der Generationen, astronomische Beobachtungen.

In solchen Erzählungen stecken oft Anspielungen, die uns nur allzuleicht entgehen. So kann der Tapir, fett und in sexueller Erregung mit beachtlich großem Penis, für einen unpassenden Liebhaber stehen. In einer solchen Erzählung verrät seine Geliebte ihn am Ende, stellt ihm eine tödliche Falle und verzehrt ihn dann gemeinsam mit ihrer Familie. Auch in unserer Erzählung hier kündigt sie an, dass sie ihre Verwandten holen wird, »damit sie dich aufessen.« Bei den Tupinambá lebte (wenn wir den Berichten Glauben schenken wollen) ein Gefangener mit einer Geliebten, bis deren Leute ihn am Ende erschlugen und auffraßen .17 Doch lassen sich solche mögliche Bezüge nicht mehr sicher feststellen, wenn wir nicht mehr mit der Erzählerin sprechen können.

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