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3 Das Nichts, höchstes Wissen, höchste Wesen 3.1 Creatio ex nihilo

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An den Anfang der Schöpfung setzen einige südamerikanische Mythen das Nichts. Ein als literarischer Text besonders schönes Beispiel hierfür ist die Mythe von der Entstehung der Welt, die Rigasedye vom Volk der Witoto 1914 dem Ethnologen Konrad Theodor Preuss diktierte. Mit der Rhetorik eines philosophischen Traktats fragte er: »Was war nicht da?« und meinte damit »nichts war da«, um dann in immer neuen Bildern den Begriff des Nichts zu erläutern. Im Nichts hielt der »Vater, der ein Trugbild hat oder ist« die Illusion

an einem Traumfaden mit dem Hauche. Er prüfte, wo der Grund des leeren Trugbildes sei, es war aber nichts da: »Leeres knüpfe ich an.« Nichts war dabei vorhanden« [… Er] tastete nach dem leeren Scheinsitz. Am Traumfaden knüpfte der Vater das Leere an.46

Zentral ist hier der Begriff naino, den der Forscher damals mit »Scheinbild«, »Trugbild«, »Scheingebilde«, »Traumbild« übersetzte, und den wir heute auch mit »Vision« übersetzen könnten, da er im Zusammenhang eines visionären Schamanismus steht. Das sich selbst aus seiner Vision erschaffende Wesen erträumt die Realität. Dazu denkt es sich die Schöpfungsgeschichte aus, damit sie erzählt werden kann, genauer gesagt, ist er selbst die Schöpfungsgeschichte (fasst Sol Montoya ihre genaue Lektüre des alten mythischen Textes zusammen):

Der Vater denkt sich die Schöpfungsgeschichte aus, damit sie erzählt werden kann. Doch wird die Geschichte nicht als etwas der Existenz des Vaters Äußerliches geschaffen. Er ist selbst die Geschichte, der Schöpfer identisch mit dem Erschaffenen.47

Sechzig Jahre nach Rigasedye dachte sich Félix Kuégajima den Schöpfer seiner Witoto-Welt als ein denkendes und sprechendes Herz:

Am Anfang gab es hier nichts. Unser Vater, der uns erschuf, hatte keine Extremitäten, ermangelte der Glieder. Er war nur ein Herz: Das Herz, das spricht. […] Er dachte darüber nach, wie er die Schöpfung erschaffen könnte, deshalb forschte er darüber nach, wie er selbst entstanden war. Das einsame Herz begann zu sprechen […]. Mit den Worten dieses guten Herzens wurden wir erschaffen.48

Zum Verständnis der Bedeutung des Herzens ist hier zu wissen wichtig, dass es überhaupt oft als zentrales Organ gesehen wird. In der Körperauffassung der Candoshi (bei denen das am eingehendsten Untersucht wurde, aber es gilt wohl auch für andere) gilt das Herz »als die Mitte des Organismus, von der aus sich der Prozess der Fötus-Entwicklung des Embryos entfaltet«.49

In noch einer anderen Version der Witoto, aus den Jahren 1983–1986, wird zwar auch das Nichts als Anfang genannt, dann aber ein anderer Akzent gesetzt, nämlich noch stärker auf die Wirkung des Wortes:

Am Anfang war alles nichts. Es gab einen Geist namens Nofudeema (Höchster Geist). Die Stimme dieses Geistes sagte, viele Dinge würden geboren werden, wie: Menschen, Tiere. Pflanzen und Vögel. Diese Stimme sprach immer davon, dass sie eine Schöpfung entwickelte. Mit den Jahren sollte alles so geboren werden, wie der Geist es vorausgesagt hatte.50

Ayvu Rapyta, eine mythopoetische Textsammlung der Mbyá in Paraguay aus den 1940er Jahren, beginnt etwas ähnlich wie jener Text der Witoto von dem sich selbst ausdenkenden ersten Vater (und auch hier erscheint das Herz ganz zu Beginn):

Unser allerletzter-erster Vater erschuf seinen eigenen Körper aus der ursprünglichen Finsternis […] Er existierte aus dem Widerschein seines eigenen Herzens und ließ sich das Wissen, dass in seiner eigenen Göttlichkeit enthalten war, als Sonne dienen.

Drei Mythenkundige, Guyrapaijú, Tupãjú und Joguyrovyjú vom Volk der Ñandeva, diktierten 1913 dem Forscher Curt Nimuendajú den mythischen Text »Anfang« in die Feder. Der Anfang der Geschichte der Menschheit begann hier so: »Ñanderuvuçú [Unser Großer Vater] kam allein, inmitten der Finsternis entdeckte er sich allein.« Das vom Forscher mit »entdeckte er sich« übersetzte Wort bedeutet, wörtlich übersetzt, »wusste, erfuhr er sich«51 (mehr zu den Überlieferungen der Guaraní-Gruppen Mbyá und Ñandeva und zu den hier zitierten Texten im Aufsatz von Chamorro und Combès in diesem Sammelband).

Carlos und Uldarico Matapí schrieben 1997 in einem Buch über die Geschichte ihres Volkes, der Matapí: ihr erster »Stammesältester«

Camarí erschuf sich selbst dank seines großen Wissens an einem Ort, der Yuinata heißt. Nachdem er in Yuinata seinen Fuß auf die Erde gesetzt hatte, betrachtete er die Natur und alles, was auf der Erde ist, und er dachte nach, um eine gute Entscheidung zu treffen. Da er ein großer spiritueller Zauberer war, MAICHU in unserer Sprache, musste er die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen. Da er sich selbst erschaffen hatte, war er etwas verwirrt und verängstigt. Auf der Suche nach einer Lösung für die Seinen begann er zu meditieren; dank seiner großen Kenntnisse sah er etwas Gutes an diesem Ort […]; er konzentrierte sich auf das, was jenseits alles Sichtbaren lag, und es gelang ihm, die Maloca [Wohnsitz einer indigenen Wohngemeinschaft] zu sehen.52

Doch muss ich immer wieder daran erinnern, dass wir keine geschlossene Linie finden, sondern ein Kaleidoskop. Für viele Mythenerzähler, so bei den Secoya, »erfolgt die Schöpfung nicht aus dem Nichts, sondern eher auf der Grundlage von Prä-Existentem«, zum Beispiel entstehen bestimmte Tiere aus Individuen heraus, oder die Erde bildet sich aus einer Handvoll Lehm. Das Schöpferwesen bewirkt eher eine »Gestaltung der Welt«.53

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