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1.3 Neue Mythensammlungen und neue Mythen
ОглавлениеDie große Bedeutung und Anzahl von Mythen, die in der Forschung zusammengetragen wurde, erklärt sich freilich zu einem Gutteil auch daraus, dass Erzählungen leichter aufzuzeichnen sind als abstraktere Glaubensinhalte. Letztere sind für den Forscher viel schwieriger erfassbar, schon allein aus sprachlichen Gründen: Oft reichen schon Anfangsgründe der jeweiligen indigenen Sprache, um einer manchmal gar für Kinder erzählten Geschichte zu folgen, während der Austausch abstrakter Inhalte eine viel tiefergehende Sprachbeherrschung voraussetzt. Der Weise, der die tiefsten Inhalte seiner Religion kennt, wird diese oft lieber in Form einer einfachen Erzählung dem nur mäßig sprachkundigen Forscher übermitteln als sich vergeblich daran abzumühen, Abstraktes jemandem zu erklären, der dem kaum gewachsen ist. Mythen sind daher nicht selten relativ einfache Geschichten (wenn auch mit viel Hintersinn) für einen einfachen Verständnishorizont. Allerdings werden mittlerweile religiöse Vorstellungen, vor allem aber Mythen oft von Angehörigen der jeweiligen Sprachgruppe selbst erforscht und publiziert. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein neues Literaturgenre von indigenen Mythen entwickelt, die nun nicht mehr mündlich von Indigenen erzählt und schriftlich von nicht-indigenene Forschern aufgezeichnet, sondern schriftlich von Indigenen publiziert werden. Dieses Genre hat schon seit den 1980er Jahren ein beachtliches Volumen erreicht,30 wurde aber lange kaum beachtet. Der Unterschied zu früheren, ethnologischen Mythensammlungen besteht oft allenfalls darin, dass der erklärende Apparat fehlt. Hinzu kommt eine lebendige Literatur von indigenen Schriftstellern, die teilweise auf mythische Erzählungen zurückgreifen.31
Etwas32 ähnlich wie in Europa, wo Märchen zunächst oft Literatur für Erwachsene waren und dann zur Kinderlektüre wurden (man denke etwa an Rotkäppchen, im 17. Jahrhundert eine Verführungsgeschichte für Erwachsene zwischen Adligem und Mädchen aus dem Volke), werden indigene Mythen heute oft so publiziert, dass sie auch Kinder ansprechen. Das war allerdings auch schon bei einigen alten Mythensammlungen der Fall, so erschien die Mythensammlung von Koch-Grünberg (1920) in einer Sammlung »Die Märchen der Weltliteratur«, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen ansprechen sollte. Kommerziell zahlen sich indigene Mythen wohl eher in Kinderbüchern aus, sodass auch Autoren mit Botschaften für Erwachsene unter dem Druck stehen, kindgerecht zu publizieren. Das gilt etwa für Kaká Werá Jecupé, der hauptsächlich Erzählungen aus der Überlieferung von Tupí-Guaraní neu erzählt, aber für Erwachsene unter anderem auch eine poetische portugiesische Teilübersetzung aus dem guaranitischen Ayvu Rapyta publiziert hat (zu der von León Cadogan publizierten guaranitisch-spanischen Erstversion dieser Sammlung von Mythen und heiligen Gesängen mehr im Aufsatz von Chamorro und Combès in diesem Sammelband).33 Er hat auch Gedichte auf Guaraní veröffentlicht.34 Ein typisches Beispiel für Literatur für Kinder, die traditionelle religiöse Inhalte mit aktuellen Themen verknüpft ist ein YouTube-Zeichenkurzfilm des indigenen Schriftstellers Daniel Munduruku, in dem er zur Beachtung der Hygiene-Regeln in der Covid-19-Krise aufruft, das Virus mit Räubern des indigenen Landes gleichsetzt und gleichzeitig erzählt, dass Höhere Wesen seiner indigenen Religion sowohl gegen das Virus als auch gegen Landraub geschützt haben (wobei »indigene« Religion nicht ausschließt, dass auch die Göttin Iara aus afrobrasilianischer Überlieferung in Gestalt einer gütigen Fee auftritt – es geht hier nicht um irgendeine kulturelle Reinheit).35
Man könnte gegen dieses Genre einwenden, dass es nicht mehr aus der kollektiven Mitte eines Volks käme, sondern von herausragenden Einzelindividuen. Doch galt dies auch schon für die alten Mythenpublikationen: Nie hat jeder im indigenen Dorf Mythen erzählt, stets waren es nur Einzelne, und stets haben sie ihre eigene Fabulierlust und eigene religiöse Akzente in ihre Texte eingearbeitet. Dass dies für Mythen charakteristisch ist, zeigen die neuen Publikationen nur erneut und deutlicher. Das Ergebnis sind neben gefälligen Geschichten auch atemberaubend tiefschürfende Mythensammlungen, wie beispielweise zwei verwandte aus dem nordwestbrasilianischen Uaupés-Gebiet: Die eine, mit Erzählungen der Desana, (Panlõn/Kenhíri 1980) wurde von dem weisen kumu (Spezialist für die religiöse Erziehung Jugendlicher) und politischen Oberhaupt Umúsin Panlõn Kumu und seinem Sohn Tolamãn Kenhíri publiziert; der Vater hatte sie dem Sohn diktiert, der sie auf Desana aufzeichnete und ins Portugiesische übersetzte. Die andere, mit nahverwandten Versionen, wurde von Gabriel dos Santos Gentil, einem kumu der Tukano auf Portugiesisch publiziert (Gentil 2000).
Kaká Werá Jekupé unterscheidet zwischen »indigener« und »nativer« Literatur. Erstere wurde von Nicht-Indigenen auf der Basis dessen geschrieben, was sie von Indigenen hörten, während die literatura nativa von Indigenen verfasst wurde und von deren Lebenswirklichkeit ausgeht und somit für Jekupé auch dann authentisch ist, wenn sie fiktiv ist.36
Mythenerzähler und -erzählerinnen und andere weise Kenner überlieferten Wissens von Geistern, Mythen und Natur werden heute von Indigenen gerne als »Kenner« (portugiesisch conhecedores) zusammen genannt. »Wenn du den Kenner nicht achtest, achtest du sein Territorium nicht; wenn du den Kenner nicht konsultierst, kannst du mit seinen Hilfsmitteln und mit der Natur nicht umgehen«37 ist im Ergebnis ein Bekenntnis zu den Lehren der überlieferten eigenen Religion, auch wenn das nicht als Gegensatz zur christlichen Missison gesehen und formuliert wird.
Neben neuen Sammlungen traditioneller Mythen werden auch neue Bilder entwickelt. Der gerade erwähnte Gabriel dos Santos Gentil etwa, der zunächst die traditionelle Schöpfungsmythe seines Volkes, der Tukano und danach noch ein gleichsam ethnologisches Werk über seine alte Kultur publizierte (Gentil 2005), entwickelte das dann weiter, indem er einen neuen Kalender auf der Basis der Tukano-Tradition aufstellte.38 Indigene Kalender mit Angabe von Jahreszeiten und entsprechenden agrarischen und andern Aktivitäten sind mittlerweile ein wichtiges Instrument nicht nur für die Erinnerung an nachhaltige Formen der Nutzung der Natur, sondern über Hinweise auf Höhere Wesen, die in der Natur wirken, auch für die Bewahrung religiöser Vorstellungen. So wird etwa im Calendário anual tuyuka unter anderem zwischen acht Jahreszeiten, dreizehn jahreszeitlichen Überschwemmungen, Blütezeiten verschiedener fruchttragender Bäume unterschieden, dabei auch die Zeit der Ei-Ablage der Schildkröten (die in diesem Aufsatz in der Eingangserzählung eine Rolle spielt), und den wichtigsten Ritualen.39