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1.4 Indigene Traditionen als Gleiche neben Christentum und Wissenschaft
ОглавлениеSeit Jahrhunderten beeinflusst das Christentum indigene Religionen, teils verschmilzt es mit ihnen. Doch dies ist nicht das Thema dieses Aufsatzes. Hier aber erwähne ich neuere Auseinandersetzungen indigener Intellektueller mit Christentum und Wissenschaft. Einige sehen indigene Mythen und christlichen Schöpfungsbericht als inhaltlich letztlich gleich, weisen dabei aber auch auf Unterschiede hin. Für Margarida Brasil etwa, eine Pira-Tapuya, besteht die kleine Differenz nur darin, dass der Großvater des Universums die Welt mittels benzimento (Segnung, auch durch Zaubersprüche) erschuf. Aluízio Yu’puri Tukano hebt die nicht-europäische Überlieferung hervor, dass »wir von Anfang an in verschiedene Gesellschaften getrennt waren, in Ethnien«, was tatsächlich ein Hauptthema der Schöpfungsgeschichte der Tukano ist. Lucinéia Matos, eine Tariana beschreibt den Unterschied so:
Die Bibel sagt, dass Gott den Himmel und die Erde und alles, was es in ihr gibt, in sechs Tagen erschuf und dass er am siebten Tagen ausruhte. Mein Vater hat gesagt, dass der Herr des Universums die Welt nur durch benzimento erschuf, das heißt, mit der Macht des Denkens: Er segnete [benzia, hier auch mit der Bedeutung: Er sagte das Wort, den Segensspruch], und die Dinge entstanden gemäß seiner Vorstellung, wobei er alles einsetzte, was er in seinem Körper hatte, wie Federschmuck, Ipadu [das Entheogen Koka], Zigarre [zum Rauchen von Tabak vermischt mit anderen, entheogenen Stoffen], Spucke, insgesamt auch sechs Dinge. Die christliche Kosmologie ist nur die Kurzfassung von all dem, während die indigene Kosmologie eine detailliertere Erklärung sucht. Beide Systeme sind also kompatibel.
Ein studentisches Kollektiv aus der Uaupés-Region setzt sich mit der Beziehung Wissenschaft – indigene Mythologie auseinander:
Die wissenschaftliche Theorie beruht auf den Beweisen und behauptet, dass das vor Billionen Jahren geschehen ist. Und diese Theorie lässt keinen Platz für die mythischen Wesen. Die indigene Theorie hingegen beruht auf dem Glauben, demzufolge die Gottheiten , die das Universum erschufen, die Hauptakteure der Schöpfung sind. Es gibt also einen großen Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der indigenen Theorie, doch was bestimmte Momente der Evolution in der wissenschaftlichen Theorie angeht, gibt es eine Kompatibilität. […] In der wissenschaftlichen Evolutionstheorie, gelangten die Wesen vom Wasser aufs Land, und die natürliche Selektion trifft sich mit unserem Boot der Verwandlung, denn die ersten Fischmenschen haben verschiedene Schwierigkeiten und Hindernisse überwunden und sind sogar in die Gefahr geraten, auszusterben. […] Gemäß der indigenen [Tukano- und Desana-] Kosmologie wurde das Universum von den Gottheiten Umukho Ñehku, Ba’sebo und Buhpo Mahkõ erschaffen. Auch gab es vier Inhambús [Steißhühner], die sich in die vier Schalen voller Erde verwandelten, die aus den vier Ecken der Welt kamen. Sie brachten die Schalen und schütteten die Erde auf eine Matte aus Tururi-Faser [von der Palme Manicaria Manicaria saccifera] aus, die der Gott Ba’sebo im Weltraum aufgespannt hatte. Dadurch verbreitete sich die Erde überallhin. Diesem Moment entspricht in der wissenschaftlichen Theorie der Big Bang […] So wie es Unterschiede zwischen den Welterklärungen der Tuyuka, Desana, Tariana und Kubeo gibt, zeigt auch die wissenschaftliche Erklärung ihre Differenz. Aber im Grunde sagen alle das Gleiche.40
Dies sind individuelle Interpretationen, und, wie gesagt, sind im Grunde überhaupt die meisten Aussagen, die wir über indigene Religionen in unserem Raum kennen, individuell, aber doch meist repräsentativ für bestimmte Grundgedanken. Im hier zitierten Beispiel stammen sie aus der Uaupés-Region, die seit Ende des 19. Jahrhunderts christianisiert wurde, und wo die Einrichtung von Schulen durch Missionare (verschiedener Konfessionen) zu einer höheren durchschnittlichen Schulbildung als in vielen nicht-indigenen ländlichen Gebieten Brasiliens geführt hat. Auffällig an den zitierten Aussagen ist, dass sie die Rolle der weiblichen Schöpfergottheit, die nach anderen Berichten aus der gleichen Region (so den schon erwähnten Gentil 2000 und Panlõn Kenhíri 1980) am Anfang von allem aus dem Nichts enstand, nicht erwähnt wird. Könnte hier eine missionarische Betonung des männlichen Schöpfergottes wirksam geworden sein? Oder geht es nur darum, die indigene Kosmologie für Gläubige verständlich zu machen, die an einen männlichen Schöpfergott glauben? Weitere Unterschiede betreffen lediglich die Namen der genannten Gottheiten und dürften aus regionalen Sprachvarianten kommen.