Читать книгу Indigene Religionen Südamerikas - Группа авторов - Страница 31

3.2 Das höchste Wissen, Raum und Zeit

Оглавление

In einem oben zitierten Text sprechen Matapí von dem »Wissen«, aus dem heraus das Schöpferwesens seine Schöpfung beginnt. Bei den Kamaiurá in der Alto Xingu-Region erklärte der Schamane Arru, was im Himmel jenseits des Himmels vorhanden ist: kein menschengestaltiges Wesen, das alles weiß, sondern »das gesamte Wissen von allem«, also eine abstrakte Summe. Quer durch Amazonien und Guayana werden Sitze in Gestalt eines doppelköpfigen Vogels geschnitzt (manchmal auch als doppelköpfige Schlange gedeutet), oft Zeremonialsitze von Schamanen oder Häuptlingen. Die Kamaiurá bezeichnen den Vogel als Harpyie und stellen den Herrn oder die Herrin des Himmels dar, mit den zwei Köpfen »Wo?« und »Wann?« (siehe Umschlagbild). Die Frage als eine rhetorische Form lernten wir schon in der Schöpfungsmythe der Witoto kennen. Hier ist es die Unterscheidung der zwei Dimensionen Raum und Zeit, die in Frageform gekleidet ist. Der Himmelsvogel ist wohl dieses »gesamte Wissen von allem«, das der Schamane Arru im höchsten Himmel lokalisiert. Es wird in Worten als Alleswissen charakterisiert, bildlich und damit etwas konkreter als doppelköpfig mit je einem Kopf pro Dimension. Doch ist generell bei bildlichen Darstellungen im östlichen Südamerika zu beachten, dass es keinen fixierten Code gibt, der einem Bild immer die gleiche Bedeutung gäbe. Das doppelköpfige Wesen kann so interpretiert werden wie ich es hier wiedergebe, ein andermal aber auch anders. Unsere Suche nach festen Bildern ist hier sinnlos, kann aber zu Auskünften in jeweiligen Zusammenhängen führen.54

In einer mythischen Erzählung der Kamaiurá steigt ein Krieger namens Autará in den Himmel empor und räumt dort unter den Geistern auf.

Er sah, wie die kleinen Vögelchen die Mamaé [Geister] töteten und dann dem Herrn des Himmels brachten. Er sah, wie der Herr des Himmels die Mamaé auffraß, so daß nichts mehr, gar nichts mehr von den Mamaé übrigblieb. »Ich will ihn töten!« – »Wenn du ihn tötest, wird der Himmel zusammenstürzen, denn er ist der Herr des Himmels.« Da kehrte Autará nach Hause zurück.«

Auch im höchsten Himmel der in der gleichen Region beheimateten Waujá sitzt eine Harpyie, und zwar hält sie sich mit ihren Krallen auf dem Dach ihres Hauses fest. Auch hier darf der Himmelsvogel nicht getötet werden, denn sonst würde der Himmel herabstürzen und alles töten. Zwischen dem Himmel direkt über uns und dem darüber liegenden höchsten Himmel fliegen doppelköpfige Aasgeier hin und her. Im ersten Himmel (von uns aus gesehen) jagen sie Totenseelen, die sie dem Himmelsherrn bringen, der sie im zweiten Himmel endgültig frisst.55 Mag dieses Wesen den Totenseelen auch zum Verhängnis werden, so leuchtet doch ein, dass es nicht getötet werden darf, Raum und Zeit müssen erhalten bleiben, sonst bliebe nur das Nichts. Hier scheint eine Weltvorstellung auf, die teils abstrakt (als Fragen nach Raum und Zeit) formuliert, teils in Bildern vorgestellt wird. Bilder verweisen zumindest manchmal auf etwas letztlich Unsichtbares, nicht Darstellbares. Würde dieses vernichtet, wären wir wieder vor dem Anfang vor der Zeit, im Nichts, aus dem ein Wesen sich erst wieder herausarbeiten müsste.

Indigene Religionen Südamerikas

Подняться наверх