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3.3 Das höchste Wesen
ОглавлениеDie Vergangenheit ist nie tot, sie ist nicht einmal vergangen« (William Faulkner, Requiem for a Nun [1951] 1991: 1. Akt, 3. Szene, S. 106).
Das Zitat, das ich hier an den Anfang stelle, hat natürlich nichts mit südamerikanischen Göttern oder Geistern zu tun. Aber William Faulkners Text dreht sich darum, dass wir weder die Vergangenheit, noch die Erinnerung an sie, noch Schuld oder Verdienst auslöschen können, die wir aus ihr ererbt haben, und das ist auch der Sinn vieler indigener Mythen. Das höchste Wesen, das einst die Welt gestaltete, ist längst fortgegangen, aber wir kommen von seinem Werk nicht los. Sollte es einen Höchsten Gott geben, dann ist er hier zwar ein Deus otiosus, der in der Urzeit aktiv war, sich dann aber in die Ferne zurückzog und nun nicht mehr in die Welt eingreift – so zumindest könnte ein westlicher Forscher die indigenen Angaben in seine moderne Sicht übersetzen. Doch wäre das eben eine moderne Übersetzung, die nicht berücksichtigen würde, dass die Vergangenheit in der Sicht vieler Kulturen nicht vergangen, sondern nur anderswo Gegenwart ist. Wir sahen eben am Beispiel der Harpyie im Himmel der Alto Xingú-Region, dass sie keineswegs nur eine Anekdote aus der Urzeit ist, sondern weiterhin lebenswichtig für die Menschen, auch ohne in deren Leben direkt einzugreifen. Raum und Zeit greifen nicht ein, sondern sind vor uns und um uns herum da.
Jedoch, in Ritualen nicht angerufen – gibt es ein Höchstes Wesen überhaupt? Nicht immer auszuschließen ist, dass es hineingefragt wurde, etwa von Missionaren, die nach einem Ansatzpunkt suchten, um ihre Mission zu beginnen. Forschende Missionare der von Pater Wilhelm Schmidt begründeten Wiener Schule der Völkerkunde hatten mit ihrem Interesse und auch ihrer Sympathie für indigene Religionen und Menschen große Verdienste um die Religionsforschung, doch mit ihren hartnäckigen Fragen nach dem einen Urgott, den sie bis in die 1950er Jahre überall in vermeintlich ältesten Überlieferungen suchten, haben sie den Hochgott wissenschaftlich so sehr in Misskredit gebracht, dass er sich davon nur mühsam erholt. Seit den 1980er Jahren wird er in der Forschung kaum noch erwähnt. Doch muss ein Paradigmenwechsel in der Forschung nicht heißen, dass auch die Indigenen ihren Ansatz gewechselt haben. María Susana Cipolletti56 fasst die jahrzehntelange Diskussion 2019 so zusammen, dass heute längst nicht mehr nach einer Urform aller Religion in Gestalt des Glaubens an ein Höchstes Wesen gesucht wird, dass ein solches Wesen sich aber in südamerikanischen indigenen Glaubensvorstellungen durchaus findet (hierzu auch der Aufsatz von José Braunstein in diesem Sammelband zu Religionen im Gran Chaco, wo der Autor Ansätze eines Hochgottglaubens findet).
Das in Guayana bei Völkern der Carib-Sprachfamilie weithin verbreitete höchste Wesen Purá wird meist als eine Art Hochgott interpretiert. Bei den Piaroa lässt sich an Puru bei genauerem Hinsehen nichts Männliches oder Weibliches erkennen. Die nach seinem Aussehen Gefragten zeigten in die Luft, wo NICHTS zu sehen war. Es wirkt durch Wind, Feuer, Wasser, Erdbeben, im Wachstum der Vegetation. Das sind Emanationen des Unsichtbaren, die auch in Form von kleinen Tonfiguren dargestellt werden, während man sich vom Unsichtbaren selbst kein Bild macht.57 Es ist eine Interpretationsfrage, ob man hier einen unsichtbaren Hochgott oder das oben schon als Ursprung genannte NICHTS sehen möchte.
Bei den Karajá ist die Rede von einem Schöpferwesen, das »nicht geboren wurde«, »weder Vater noch Mutter noch irgendeinen Gefährten hatte« – Doch wer hier den christlichen Schöpfergott wähnen sollte, wird möglicherweise gleich durch die abstrakte Darstellung im nächsten Satz enttäuscht: »Er hatte nicht einmal einen Körper wie wir, denn er war gewiss wie ein guter Gedanke.« Hier mag es zwar Entsprechungen in Richtungen christlicher Theologie geben, die von der Unbeschreibbarkeit Gottes sprechen, doch ist es unwahrscheinlich, dass eine solche doch eher akademische Theologie mit Missionaren in den Busch gekommen sein sollte. In einem weiteren Schritt allerdings nimmt der Schöpfer menschliche Gestalt an (darin nicht unähnlich dem christlichen Gott, jedoch …) und heiratet alsbald. Dafür muss er zuerst die Eltern der Braut um Erlaubnis fragen, und während der Vater nichts dagegen hat, setzt die Mutter den Bewerber herab, wie dies dem Ablauf der ritualisierten Brautwerbung der Karajá entspricht: Ihre Tochter, sagt sie scheinbar wütend, »ist aus guter Familie […] und besitzt viele Qualitäten. Und Sie, niemand weiß, wer Sie sind, na so was, Sie haben nicht einmal eine Mutter!« Der Vater wirft jedoch zugunsten des Bewerbers ein, dass er »Zauber wie sonst keiner machen kann«.58 Wieder lässt sich im Argument der Mutter eine gewisse Ähnlichkeit zu einer christlichen Theologie finden, hier der sogenannten Negativen, insofern der Schöpfer im Unterscheid zu seiner menschlichen Braut keine »Qualitäten« besitzt, also nicht in menschlichen Begriffen beschrieben werden kann.
Nicht selten ist der Hochgott (wenn es ihn denn doch zu geben scheint) die gewöhnlich männliche Sonne, doch bei den Pumé hat ein weibliches Wesen, manchmal auch als »Göttin der Wasser« bezeichnet, Himmel, Erde und die beseelten Wesen erschaffen. Ältere Forschung vermutete in dieser Frau eine Mondgöttin, was heute nicht mehr so klar gesagt wird.59 In anderen Fällen könnte es sein, dass westliche Forscher einfach vorausgesetzt haben, dass das Höchste Wesen männlich sein müsse. So wird etwa in den Tupí-Guaraní- und karibischen Sprachfamilien kein grammatisches Geschlecht unterschieden, sodass es leicht zu Fehldeutungen kommen kann, zumal wenn ein Forscher von vorneherein dazu neigt, ein Höchstes Wesen als männlich zu verstehen (auch wenn natürlich alle Sprachen eigene Wörter für geschlechtsspezifische Begriffe wie Mann und Frau und die Möglichkeit bieten, durch Zusätze zu einem Wort das Geschlecht zu präzisieren).
Freilich sind solche Höchste Wesen selten lange allein: Ihnen tritt eine Ergänzung entgegen, die bisweilen eine Emanation oder Schöpfung des Schöpferwesens selbst ist: eine Frau oder ein Gegner. In der schon erwähnten Version der Witoto aus den Jahren 1983–1986 suchte sich der anfangs im Nichts einzig existierende höchsten Geist alsbald das andere Geschlecht:
Dem Geist fehlte eine Kraft, eine Hilfe, so suchte er eine Gefährtin, um den [indigenen] Stamm zu bilden. Diese Frau war besonders, Jebuchariño (Mutter aller lebenden Wesen), die holte er, damit sie seine Frau werde. Als sie sich zusammenlegten, erwartete sie das Wort des Mannes. Der Mann sagte ihr, dass es eine Schöpfung geben werde. Er wusste, dass es Essen geben werde, dass Menschen geboren würden, da begann die Frau ihn zu bitten, ihr zu sagen, welche Frucht er ihr geben wolle.
Sie zweifelte aber daran, dass er Nahrung herbeischaffen könne, und zog es vor, selber zu arbeiten. Ständig am Wort ihres Mannes zweifelnd, gebar sie Arbeitswerkzeuge.60 In der Ursprungsmythe der Ñandeva (aus der ich oben schon zitierte, und die Graciela Chamorro und Isabelle Combès in diesem Sammelband zusammenfassen) zweifelt die Frau an der Fähigkeit des Schöpfers, Mais ohne Arbeit in Minutenschnelle wachsen zu lassen, und darüber kommt es zu einem tragischen Ehestreit. Die Frau erscheint in solchen Mythen als die vernünftigere, realistischere, die deshalb die schamanische Fähigkeit des Mannes nicht zu schätzen weiss. Bei solchen Episoden dürfen wir nicht vergessen, dass sie von Männern, oft von Schamanen erzählt wurden, deren Zuhörer Männer, nämlich Forscher waren. Unter Männern wird hier über die Unbedarftheit der Frau gelästert, die zwar Sinn für reale Arbeit auf dem Feld hat, nicht aber für Wunder. Ich erwähnte schon die Frau, um deren Hand der Schöpfer in der Mythologie der Karajá anhielt, übrigens erfolgreich. Sie verlangte dann von ihm, dass er das wahre Licht holen gehe, auf der Welt sei es zu dunkel. Der Schöpfer zog also los und kämpfte mit den Aasgeiern, die das wahre Licht besaßen. Dafür allerdings verbrachte er so viel Zeit außer Haus, dass seine Frau sich einen jüngeren, hübscheren und weniger aushäusigen Gemahl suchte.61