Читать книгу Indigene Religionen Südamerikas - Группа авторов - Страница 35
3.6 Gespenster, Monstren, Geister
ОглавлениеSie nahmen die [abgeschnittenen] Ohren in die Hände und hielten sie hoch. zum Wald hin. Sie riefen in den Wald hinein: »Kommt nicht wieder! Wagt es nicht! Ihr seid jetzt keine menschlichen Wesen mehr, nur noch Mamaé [Geister].«73
Im Unterschied zu den Schöpferwesen sind Geister im Alltag und mehr noch bei häufigen Festen sehr präsent. Die Wilden sind von Geisterfurcht besessen, lautet eine nicht auszurottende westliche Vorstellung von Religionen, die in dieser Vorstellungswelt als »primitiv« gelten. Und tatsächlich: in vielen Kulturen begegnen wir Geistern auf Schritt und Tritt. Doch vielfach werden sie gedemütigt, gezähmt oder in die Flucht geschlagen. Dann sind sie arme Teufel. Schon in der frühen Kolonialzeit bei den Tupinambá wurde anhanga von Missionaren als Teufel identifiziert und bekämpft.
Philologisch dem Wort anhanga verwandt ist der Name anhang-ú (»schwarzer anhang«) der den Tupinambá nahverwandten Kamaiurá. Anhang-ú wurde mein erster wilder Geist, als er keulenschwingend und brüllend durchs Dorf tobte. Die Frauen flüchteten ängstlich schreiend in die Häuser, doch die Schreie waren wohl auch deshalb so laut, damit das immer wieder aufkommende Kichern übertont wurde. Der Wüterich folgte ihnen wütend in die Häuser, um dann die Maske abzusetzen und Speise und Trank zu genießen, die ihm die Frauen nun kredenzten. Das Ganze war eine Riesen-Dorfgaudi mit genüsslichem Schlemmen, doch dahinter stand das Wissen darum, dass der Geist auch anders konnte … Geister sind oft lächerlich, aber man muss sich vorsehen.
In der mythischen Erzählung von anhang-ú, aus der ich eingangs dieses Abschnitts zitiere, terrorisieren wilde Waldgeister die Menschen, bis junge Krieger ihre Furcht und die Warnungen Älterer überwinden, die Waldgeister erschlagen und ihnen die Ohren abschneiden. Aus diesen macht man Feuerfächer, ein unentbehrliches Werkzeug der Frauen. Umgekehrt macht man aus den Palmstroh-Feuerfächern Ohren für den Tanz des Geistes, indem man sie ihm in die dafür vorgesehenen Löcher am Kopf steckt. Die Monstren sind männlich die einen, weiblich die anderen, beide Geschlechter taten in den Mythen das Gleiche, nämlich herumbrüllen, drohen und Menschen erschlagen. Die Menschen hingegen gingen arbeitsteilig vor: Männer töteten die Geister und machten aus ihnen Werkzeuge für die Frauen, die damit Essen zubereiten. An die Stelle undifferenzierter Wildheit tritt die Kultur mit ihrer Arbeitsteilung. An anderer Stelle habe ich ausführlicher dargelegt, wie das dumpfe, ungeschlachte Brüllen des Waldgeistes (das durch die über den Kopf gestülpte Kalebasse noch dumpfer und undeutlicher wird) in den melodischen Klang einer heiligen Flöte verwandelt wird.74 Dem entspricht in der Sprache der Kamaiurá, die eine Klangtheorie enthält, der Gegensatz zwischen allgemeinen, oft ungeordneten Lauten und Klängen einerseits, vernünftiger Sprache und geordneten Klängen andererseits (Menezes 1999), etwas ähnlich dem Unterschied im Deutschen zwischen »fressen« und »essen«, aber nicht auf Essensweisen bezogen sondern auf Klänge. Die geordneten, melodischen Klänge der Flöte erklingen unter anderem, um das Wachstum der Anbaupflanzen, vor allem des Maniok zu fördern. Das aber wird nur möglich durch die Rebellion der Jungen gegen die Vorsicht der Alten, und wieder stoßen wir hier auf das Motiv, das wir in anderer Form schon in der Erzählung von Schildkröte und Tapir kennenlernten: Den Gegensatz zwischen Alten und frechen Jungen. Die anhang-ú-Geister, die von den Jungen herausgefordert werden, sprechen diese herablassend an: »Was willst du, mein Kleiner, mein Säugling?«, und werden dann von dem »Kleinen« erschlagen.75
Das oben erzählte mythische Bild von den kreuz und quer wie ein Huhn laufenden Flüssen bildet den größtmöglichen Gegensatz zu einer ordentlichen Landschaftsplanung. Wie diese nach dem Willen der Urheber aussehen sollte, aber leider nicht aussieht, wird in Abb. 3 sichtbar: Im Unterschied zu dem wilden Gesicht links ist das rechte in eine geometrische Zeichnung eingepasst. Die geometrischen Muster auf der rechten Darstellung wurden, als ich sie sah, als der Reichtum an Fischen gedeutet, den der Geist bewacht, doch können die Deutungen sich ändern und sind überhaupt nicht festgelegt.
Abb. 3: Kopfaufsätze von Tanzumhängen der Kamaiurá. Links Porträt des Brüllaffengeistes (schwarzes Wachs, Augen aus Muschel, Zähne aus Fischgebiß, Zunge aus Baumwolle. Höhe ohne Ohren 4 cm). Rechts auf dem Kopf zu tragende Holzplatte, Mund aus Fischzähnen. Breite 34 cm. Zum Verdecken des Kopfes des Tänzers. Kunstwerke heute in der Sammlung Weltkulturen Museum Frankfurt am Main, Foto: Wolfgang Günzel.76
Die Masken, die bei Ritualen als Geister auftreten, sind nicht die Geister selbst. Man weiß sehr wohl, dass sich darunter Menschen aus der Nachbarschaft verbergen, und insofern ist die Furcht vor ihnen großes, rituelles Theater. Doch die Darstellenden unter und vor der Maske machen eine Verwandlung durch.
Die Masken sind die sichtbar gewordene »Unsichtbarkeit«, wie in einem Prozess der Enthüllung und Vorstellung. Es handelt sich mehr um einen Zustand der Verwandlung der Empfindsamkeiten als um eine Darstellung in dem üblichen Sinn, den sie in der westlichen Philosophie hat. Da der Begriff potalapitsi [Darstellung von etwas Realem] auf der Ebene der Nachbildung angewendet wird, verstehen die Waujá es so, dass das Bild eine ungewöhnliche Nähe mit dem herstellt, was angefertigt oder gezeichnet wurde.77
Nicht wenige Geisterdarstellungen sind Karikaturen, oft von Fremden, gerne von Nicht-Indigenen. Der eben erwähnte anhang-ú ist bei aller Lächerlichkeit doch gefährlich. Er hat einiges mit gefürchteten und verachteten entfernteren Nachbarn, den Kisêdjê und Mebêngôkre zu tun und schwingt deren typische Waffe. Ihre wilde Primitivität ist nach Ansicht der Kamaiurá gleichermaßen für diese Nachbarn und für diesen Geist typisch. Andere Geister tragen einen Vollbart, und die Anspielung auf Nicht-Indigene dürfte denjenigen, die einen solchen Geist bei Maskenfesten tanzen sehen, klar sein (die Indigenen in diesem Raum tragen nicht oft Bart): Ein Waldschrat wie die Weißen, die aus den Städten bis in die indigenen Dörfer vagabundieren. Hinter seiner Fratze könnte sich Brutalität verstecken.
Die Abbildung 4 zeigt solche wilde Waldgeister mit Bart. Die rechte Gestalt könnte den Ethnologen Theodor Koch-Grünberg darstellen, dem der indigene Zeichner das Bild ins Skizzenbuch zeichnete – der Forscher, gesehen als wilder Waldschrat. Dabei ist er aber auch ein Waldgeist. Die Rauten auf seinem Körper sind die Verzierungen auf der Tanzmaske des Geistes.
Die Bahúkiwa, denen der Zeichner von Abb. 4 (rechts) angehörte, sind eine der Sippen der Kubeo, aber eine von geringem Ansehen, sie gelten als niedriger Herkunft. Koch-Grünberg vermutete, dass sie von »Makú« (heute eher Hupda genannt) abstammen, einem von anderen Kubeo verachteten Volk, das abseits der großen Flüsse tiefer in den Wäldern wohnt.78 Der Zeichner aus diesem Volk hat hier einen Waldgeist aus den Wäldern gezeichnet, in denen die Nachbarn sein Volk als wilde Fremde vermuteten, und gleichzeitig hat er wohl auch den fremden Forscher, Koch-Grünberg dargestellt: Die Wilden sind immer die anderen.
Otto Zerries hat einstmals in seiner klassischen Studie zu südamerikanischen Geistern diejenigen, die nicht einfach Totengeister sind, sondern anstatt aus dem Totenreich aus dem Wald kommen, »Wild und Buschgeister« genannt. Heute könnte er vielleicht Wild-, Busch- und Stadtgeister sagen.79 Manche sind Totengeister, aber nicht alle. Neben Kreaturen, die das Lächerlich-Wilde ferner Nachbarn oder Fremden verkörpern, gibt es Monster und freundliche Hilfsgeister aus der Vergangenheit.
»Zeitreisemaschinen« nennt sie Rafael José de Menezes Bastos, der daran genauere Definitionen des Begriffs »Vergangenheit« knüpft (in dem Fall bei den Kamaiurá): Es gibt zwei vergangene Zeiten; die eine hat Anfang und Ende, die andere ist ewig, eine immer wieder erneuerte Zeit. Menezes nennt diese zwei Zeiten »historische« und »mythische Zeit«, was bis zu einem gewissen Punkt der Unterscheidung entspricht, die in der altgriechischen Grammatik zwischen Aorist und iterativem Imperfekt gemacht wird (im schulischen Altgriechisch-Unterricht manchmal als
Abb. 4: Links Geist mit schwarzem Bart, der bei der Mädcheninitiation der Ticuna auftritt (Ethnographische Sammlung der Philipps-Universität Marburg). Rechts Waldgeist Mákuke, gezeichnet von einem Bahúkiwa.80
Punkt- und Strichhandlung unterschieden): Die historische Zeit (Punkthandlung) hat einen Anfang und ein Ende, die mythische Zeit ist eine immer sich fortsetzende Linie, letztlich außerhalb der Zeit, und im Ritual immer wieder aktivierbar. Takumã, ein neben seiner fließenden Kenntnis des Portugiesischen mehrerer indianischer Sprachen kundiger Kamaiurá, hatte Schwierigkeiten das in das in dieser Hinsicht weniger differenzierte Portugiesische zu übersetzen. »das ist einstmals, weil es von Anfang an geschieht, und ist es nicht, weil es auch jetzt ist, es ist jederzeit«.81 Madarejúwa Tenharim spricht von der »Zeit der Träume«: »Wir sagen, dass die Dinge nicht in der Gegenwart passieren, dass sie aber auch nicht vorbei sind«.82
Oft heißt es in der Forschung, der Mythos werde durch Erzählen und Nachspielen immer erneut zur Realität. Das wird oft als das »Zirkuläre« von Mythos und Ritual bezeichnet, und dazu wird Eliade (2007 [1949]) angerufen. Mir scheint aber in den indigenen Ritualen weniger eine Urzeit re-aktiviert zu werden, als dass Geister aus einer größeren Entfernung (Wald, Wasser, Himmel, Unterwelt) herbeigeholt werden, aus der räumlichen Ferne also und nicht aus der zeitlichen. So wie Makuna es dem Forscher darstellten, kommen die Geister aus »der zeitlosen Welt des Mythos, in der Tiere und Menschen nicht unterschieden sind, aber auch einer Dimension der Gegenwart, einer unsichtbaren spirituellen Realität, die parallel zur sichtbaren Welt der normalen Erfahrung existiert« (und von Schamanen erfahren wird.83 Die Wayana sehen in den Geistern zwar Wesen aus der Urzeit, die sich aber bis heute gehalten haben. Sie bewohnen Räume, die nicht von den Menschen besetzt sind. Dort bauen sie in Höhlen »Dörfer«, mit Palisadengehegen für ihre »gezähmten« Tiere, das heißt, ihre Gefangenen. Diese müssen ihnen dienen und für sie Beutetiere herbeischleppen und schlachten (Wayana, die einen Zoo gesehen habe, sagen, die dortigen Käfige seien so wie die der Geister).84